Dienstag, 13. Januar 2015

Piano Girl - Im Herzen spielt die Musik - KAPITEL 3

Samstagabend kam meine Mutter auf die hervorragende Idee mich zum Einkaufen zu schicken. Sie war der Meinung etwas frische Luft und Bewegung täte mir ganz gut, nachdem ich den ganzen Tag über nur in Schlafsachen vor dem Fernseher verbracht hatte. Zwischendurch hatte ich immer wieder Luan’s Nummer gewählt, aber keine Antwort erhalten. Allmählich begann ich mir sogar schon Sorgen zu machen.
Ich schlenderte gedankenverloren durch die Regale im Supermarkt und packte in den Wagen, was meine Mutter mir mit ihrer Sauklaue auf einen Einkaufszettel geschmiert hatte. Außerdem warf ich noch jede Menge Süßkram dazu.
Als ich gerade um eine Ecke bog und in den nächsten Gang einbiegen wollte, fing ein Mädchen mit braunem Haar meine Aufmerksamkeit. Sie stand vor einem Regal und schien im selben Moment wie ich aufzublicken. Wir schauten uns einige Sekunden in die Augen. Dann ging sie plötzlich auf mich zu.
„Hey, du bist doch das Mädchen von gestern im Kino, oder?!“, fragte sie mich.
Ich nickte.
„Hi, ich bin Yuni, Luan’s Cousine.“, sagte sie und streckte mir die Hand entgegen.
„Kia.“, sagte ich knapp und das seltsame Gefühl ließ langsam nach.
„Hast du vielleicht etwas von ihm gehört? Luan meine ich…“, fragte sie und sah mich zerknirscht an. „Ich kann ihn nicht erreichen. Und zuhause ist er wohl auch nicht. Zumindest macht niemand auf. Und seine Eltern sind über das Wochenende verreist. Die kommen erst morgen Abend wieder.“, erzählte sie.
„Du kannst ihn auch nicht erreichen?“, fragte ich etwas verwundert.
Yuni schüttelte den Kopf. „Ich weiß ja, Luan ist schon alt genug, aber ich mache mir trotzdem Sorgen.“ Sie legte eine lange Pause ein.
„Ich weiß gar nicht ob ich dir das erzählen darf…“, fing sie erneut an. „Heute ist der Todestag von Kai. Das ist immer ein ziemlich sensibler Punkt bei ihm…“ Mehr musste Yuni gar nicht sagen. Ich erinnerte mich daran, dass Luan von seinem Bruder Kai sprach, der sich das Leben genommen hatte. Plötzlich gab Luan’s seltsames Verhalten einen Sinn. Und wie durch einen Geistesblitz wusste ich sofort wo ich nach ihm suchen musste.
„Du kannst mir ja mal deine Nummer geben, dann sage ich dir bescheid, sobald ich was von ihm höre. Ich muss jetzt leider echt los, meine Mutter wartet schon.“, meinte ich. Ich tippte rasch Yuni’s Nummer in mein Handy und beendete meinen Einkauf so schnell ich konnte. Ich rannte in einem Affenzahn nachhause, warf die Tüten in die Küche, preschte die Treppe nach oben und schnappte mir den Schlüssel, den Luan mir am Vorabend gegeben hatte.
„Wo willst du denn so schnell hin?“, rief meine Mutter mir zu, als ich die Stufen schon wieder nach unten trampelte und auf die Tür zu hastete.
„Ich muss weg. Bis nachher.“, keuchte ich noch hervor und verschwand in der Abenddämmerung. Ich lief Richtung Stadtmitte und wählte im Gehen Inna’s Nummer. Ich hatte zwar den Schlüssel zum Bandraum von ‚Legit‘, allerdings hatte ich keine Ahnung, wo dieser war.
„Inna?“, haspelte ich ins Telefon.
„Ja?“, fragte diese gedehnt.
„Wo ist der Bandraum von ‚Legit‘?“, wollte ich wissen.
„Bandraum? In der Schule?“, fragte sie mich.
„Nein, nein. Irgendwie außerhalb. Bitte, es ist wichtig.“
„Ist etwas passiert?“, hakte sie nach.
„Inna.“, jammerte ich.
„Hmmm, lass mich mal nachdenken.“, meinte sie. Stille. Mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust. Noch immer lief ich auf den Stadtkern zu, ohne zu wissen, ob das überhaupt die richtige Richtung war.
„Ah. Ich glaube ich weiß wo das sein könnte.“, meinte Inna dann. „Bei der alten Fabrik. Da vermieten die soweit ich weiß Räume. Ich bin mir ziemlich sicher ich habe Hana mal darüber reden hören. Aber sag mal, du wirst doch jetzt nicht etwa zur Stalkerin?!“
„Danke.“, sagte ich kurz und ignorierte ihre weitere Bemerkung. Dann legte ich auf.
Ich steckte mein Handy in die Jackentasche und begann wie eine Irre zu laufen. Aus irgendeinem Grund hatte ich ein extrem ungutes Gefühl. Ich musste diesen Raum unbedingt erreichen.
     Ich schaute an der alten Fabrik empor. Das Gebäude war schmutzig und sah wenig einladend aus. Ich umrundete die Fabrik, bis ich endlich einen Eingang fand. Das Treppenhaus roch modrig und metallisch. Außerdem war der eklige Geruch von Urin nicht zu ignorieren. Ich ging die Treppen nach oben, horchte in die Stille hinein. Graffitis zierten jede Wand, zerknüllte Decken und Müll lag auf jedem Stockwerk. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Obdachlosen sich hier Nachts zum Schlafen einfanden. Ich hatte keine Ahnung welcher dieser Räume der richtige sein würde. Ich ging einfach weiter die Treppen hinauf. Als ich es schon fast aufgegeben hätte, drang Musik vom letzten Stockwerk hinab. Sofort begann ich die Stufen hinauf zu sprinten. Im obersten Stock war ein Schild mit der Aufschrift ‚Legit‘ an die Tür angebracht. Die Musik kam eindeutig von dort. Ich kramte den Schlüssel hervor und schloss die Tür auf. Vor mir lag eine Art Wohnung. Überall brannte das Licht. Der Flur war bis auf ein Paar Schuhe leer. Vorsichtig schaute ich mich um. Ich steckte meinen Kopf durch die erste Tür. Hier befand sich eine Küche. Geschirr türmte sich neben der Spüle. Der Wasserhahn war aufgedreht und das Wasser lief unaufhörlich in das Becken hinab. Ich drehte den Hahn zu und verließ die Küche wieder.
„Luan?“, rief ich. Doch ich bekam keine Antwort. Der nächste Raum war ein Wohnzimmer. Eine alte Couch stand vor einem mickrigen Tisch. Die Musik dröhnte aus den Lautsprechern einer Stereoanlange. Ich schaltete sie aus und horchte in die entstandene Stille. Doch auch war von Luan nichts zu sehen und nichts zu hören. Stattdessen erspähte ich leere Glasflaschen auf dem Boden. Beim näheren Betrachtet erkannte ich, dass es allesamt Sojuflaschen waren. Das unangenehme Gefühl, das ich seit der Begegnung mit Yuni im Supermarkt hatte stieg weiter an und schnürte mir allmählich die Atemwege zu.
„Luan?“, rief ich erneut. Schließlich betrat ich den dritten Raum. Beinah hätte ich laut aufgeschrien. Luan lag zusammengekauert auf dem Boden. Die Instrumente lagen überall im Raum verteilt, das Schlagzeug war in seine Einzelteile zerlegt worden, der Verstärker wurde umgeworfen und einige Saiten des Bass waren zerrissen.
Ich eilte zu Luan und kniete mich neben ihm nieder.
„Luan?“, fragte ich. Ich rüttelte ihn, doch er regte sich nicht. Seine Stirn war heiß und seine Locken klebten ihm feucht im Gesicht.
„Luan, hörst du mich?“, wollte ich wissen. Mein Herz raste. Ich hatte unglaubliche Angst.
„Luan bitte.“, jammerte ich. Ich fühlte seinen Herzschlag. Er lebte. In seiner Hand entdeckte ich eine kleine Rolle mit Tabletten. Das sah ganz und gar nicht gut aus. In diesem Moment stöhnte Luan leise.
„Luan?“, fragte ich. Ich strich ihm über die Wange und hoffte er würde endlich die Augen aufschlagen.
„Yuni?“, fragte er fast flüsternd.
„Ich bin es, Kia.“, sagte ich.
Endlich machte er die Augen auf. Er sah müde aus. Seine Haut war fahl und seine Augen rot unterlaufen. Er lächelte kaum merklich, als er mich ansah und streckte den Arm nach mir aus. Ich griff nach seiner Hand.
„Luan!“, sagte ich mit fester Stimme. „Wie viele hast du hier von genommen?“, fragte ich und hielt ihm die Tabletten vor die Nase. Er schüttelte den Kopf.
„Luan es ist wichtig. Wie viele hast du genommen?“, drängte ich.
„Ich rufe jetzt den Krankenwagen.“, sagte ich, als er nicht antwortete. Ich ließ seine Hand los und wollte gerade mein Handy herausholen, da wurde ich von ihm unterbrochen. Er griff erneut nach meiner Hand und hielt sie diesmal fester.
„Keine.“, keuchte er. „Ich bin ein Feigling.“, sagte er und wandte den Blick von mir ab.
„Und du lügst mich nicht an?“, fragte ich. Ein Stein fiel von meinem Herzen.
Er schüttelte den Kopf. „Niemals.“, beteuerte er.
„Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“, sagte ich wütend.
„Tut mir leid. Ich wollte dich da nicht mit reinziehen.“, sagte er. Er rollte sich auf den Rücken und schaute mich aus seinen tiefbraunen Augen an.
„Ich bin froh, dass du es doch getan hast.“, meinte ich.
Endlich fiel der Rest der Anspannung von mir ab. Luan lächelte.
„Hey! Hör auf zu lächeln. Ich bin trotzdem noch böse auf dich.“, zischte ich und schlug ihn leicht gegen die Schulter. Doch daraufhin grinste er nur umso breiter. Ich schüttelte gespielt genervt den Kopf.
„Bleib hier.“, sagte er, als ich Anstalten machte aufzustehen.
„Ich hole dir nur eben ein Glas Wasser.“, beruhigte ich ihn.
Als ich mit dem Glas in meiner Hand wieder ins Zimmer kam, saß Luan an die Wand gelehnt mit den Tabletten in der Hand.
„Denk gar nicht daran.“, sagte ich, entriss ihm die Packung und ließ mich neben ihn auf den Boden sinken. Er nahm einige große Schlucke aus dem Glas und ließ den Kopf gegen die Wand fallen.
„Willst du darüber reden?“, fragte ich.
Luan schüttelte den Kopf.
Ich holte mein Handy hervor und tippte eine Nachricht an Yuni, in der ich ihr versicherte, dass es Luan gut ging.
„Wem schreibst du?“, fragte er neugierig.
„Deiner Cousine.“, sagte ich und ließ etwas warnendes in meiner Stimme mitklingen.
„Yuni?“, fragte er überrascht.
„Ich habe sie vorhin beim Einkaufen getroffen. Sie hat sich total Sorgen gemacht. Sie hat mir das mit Kai erzählt.“, antwortete ich und vermied seinen Blick.
Luan zuckte neben mir zusammen. Er wurde still und sein Lächeln erstarb.
„Wir machen einen Pakt, ja?!“, verlangte ich dann. Fragend blickte er mich an. „Wenn du wieder einmal vorhast, etwas Dummes zu tun, rufst du mich an und ich komme zu dir.“, meinte ich.
„Wieso solltest du das wollen?“, fragte er mich.
„Das ist meine Art nicht stehen zu bleiben.“, sagte ich mit ruhiger aber ernster Stimme. Ich meinte das nicht als Spaß oder als netten Vorschlag. Nein, ich meinte es genau so wie ich es gesagt hatte. Ich wollte, dass Luan sich auf mich verlassen konnte, wenn er anscheinend sonst niemand hatte.
„Und im Gegenzug spielst du mir etwas vor?“, forderte er und nickte mit dem Kopf in Richtung des Keyboards.
Geknickt sah ich zu Boden. „Muss das denn sein?“, fragte ich ihn. „Du weißt doch ich spiele nicht mehr.“
„Weiß ich. Aber ich bin es doch nur. Was hast du also zu verlieren?!“, wollte er wissen.
„Dass die Annahme, dass ich für einige Stücke zu schlecht bin, bestätigt wird.“, erwiderte ich nüchtern.
„Schlecht ist relativ.“, meinte er. Plötzlich bemerkte ich die ersten Parallelen zwischen ihm und Tay. Sie beide spielten Musik mit ihrem Herzen, nicht mit ihren Fingern.
„Spielst du mir etwas vor, wenn ich dir etwas vorspiele?!“, fragte er dann. Als ich ihn verwundert ansah, versuchte er aufzustehen. Doch so recht gelang es ihm nicht. Der Alkohol war noch zu stark in seiner Blutlaufbahn.
„Bleib sitzen.“, sagte ich schnell und drückte ihn wieder auf den Boden. „Du kannst mir auch ein anderes Mal etwas vorspielen.“, beteuerte ich und ging zögernd auf das Keyboard zu. Ich starrte auf die schwarzen und weißen Tasten. Meine Finger zitterten, mein Herz raste, mir wurde heiß. Schweißperlen liefen mir die Stirn hinunter.
Ich drückte auf den Power Knopf. Die rote Stromlampe blendete mich und sofort erkannte ich in ihr das Rücklicht des Autos wieder, in das wir beim Unfall gerast waren. Ich schloss die Augen, versuchte die aufkommenden Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen. Ich hörte das Scheppern von Metall, das Schreien eines Babies, spürte das unweigerliche Stechen, das sich durch meine Knochen gezogen hatte.
„Ich kann nicht.“, sagte ich gedrückt. Ich bekam kaum Luft und heiße Tränen tropften aus meinen Augen hinaus und bahnten sich ihren Weg über mein Gesicht.
Luan schaute mich getroffen an. Er stützte sich an der Wand ab, stand auf und wankte mehr oder weniger sicher zu mir herüber. Vorsichtig wischte er mir die Träne von der Wange. Wortlos schloss er mich in die Arme. Am liebsten hätte ich dem Druck lauthals los zu weinen nachgegeben, doch ich musste mich zusammenreißen. Ich drückte meine Stirn gegen Luan’s Schulter, krallte mich in seine Jacke und ermahnte mich tief durchzuatmen.
„War ich nicht eigentlich hier um dich zu retten?!“, fragte ich in seine Jacke hinein. Sein Körper vibrierte sanft, als er leise lachte.
„So gefällt mir die Rollenverteilung eindeutig besser.“, witzelte er. Er drückte mich von sich weg, nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und sah mich durchdringend an.
„Schließ die Augen.“, sagte er.
Langsam schloss ich die Lider.
„Denke an den Tag des Unfalls.“, forderte er und seine Stimme wurde zu einem leisen, melodischen Flüstern. Ich wollte eigentlich nicht zurück denken, die grausigen Visionen reichten mir. Aber irgendetwas an seiner Berührung, ließ meinen Körper schwer werden, sodass ich das Gefühl hatte gleich in einen tiefen Schlaf gerissen zu werden.
„Denk daran, was du an diesem Tag vor hattest, was dich angetrieben hat und was dein Ziel war.“
Dies war eine Perspektive, die ich bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Ich gab mir alle Mühe und versuchte mir die verdrängten Erinnerungen wieder in den Kopf zu rufen.
„Was hast du an dem Tag gerochen?!“, leitete Luan mich weiter.
Sofort nahm ich den Duft der Nadelbäume wahr, die den Weg zur Universität säumten. In Gedanken schritt ich den gepflasterten Weg auf das helle Gebäude zu. Freundlich lachte es mich an. Die Bäume wehten in der lauen Brise. Ich trug meinen Schulblazer. Unter dem Arm trug ich meine Mappe. Ich hatte all die Noten dabei, die mich in der letzten Zeit inspiriert hatten. Darunter Liszt, Ravel und Chopin. Es war der schönste und schrecklichste Tag zugleich gewesen. Ich sah vor meinen Augen, wie meine Traumuniversität wie Wachs in der Sonne schmolz.
„Siehst du deine Ziele?“, fragte er nach.
Ich nickte und presste die Lippen fest aufeinander.
„Was hat sich verändert?“, wollte er dann wissen.
„Dass ich das Ziel nicht mehr erreichen kann.“, meinte ich und öffnete die Augen. Ich war kurz davor wieder in Tränen auszubrechen. Luan lächelte mich müde an.
„Vielleicht musst du nur deine Taktik ändern.“, meinte er.
„Was meinst du damit?“, hakte ich nach.
„Wenn du vorher einen bestimmten Weg hattest, um dein Ziel zu erreichen, dann such dir jetzt eben einen neuen Weg.“, sagte er und lies in diesem Moment mein Gesicht los. 

Ich lag in meinem Bett und starrte an die Decke. Einen anderen Weg einzuschlagen, war leichter gesagt als getan. Die Enderson Universität hatte mich angenommen, weil ich eine unglaubliche Pianistin war. All die Stücke, die ich mit Bravur bei meiner Bewerbung gespielt hatte, waren jetzt eine Nummer zu groß für mich. Meine Knochen konnten zwar wieder zusammen gepuzzelt werden, aber meine motorischen Fähigkeiten waren auch nach einem Jahr Reha nicht mehr die selben. Die Enderson würde mich jetzt nicht mehr akzeptieren. Wenn das Jahr nicht gewesen wäre, dann hätte ich schon bald angefangen zu studieren. Doch so wurde meine Bewerbung zurück versetzt.
Ich wälzte mich unruhig von einer Seite auf die andere. Ich versuchte ja wirklich einen neuen Weg zu finden. Aber mir wollte sich einfach keiner auftun. Es schien als würde keiner dieser Wege um das Spielen herum führen.
     Am Montag trudelte ich hundemüde in der Schule ein. Ich hatte mein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und trottete durch die Flure. Obwohl Luan und ich jetzt wohl so etwas wie Freunde waren, wusste ich trotzdem nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte, falls ich ihm begegnete. Doch meine Sorge war anscheinend unbegründet, denn ich lief ihm nicht ein einziges Mal über den Weg. Erst beim Mittagessen bemerkte ich, dass er nicht am Bandtisch saß und wahrscheinlich gar nicht in der Schule war. Sofort wurde ich unruhig und kramte hastig mein Handy hervor, um ihm zu schreiben.
„Wem schreibst du?“, fragte Inna, die auf einem Salatblatt herumkaute.
 Ich blickte sie an und überlegte, was ich sagen sollte. „Luan.“, knirschte ich schließlich.
„Also ehrlich, wie hast du das bitte gemacht?“, fragte sie und warf theatralisch die Hände in die Luft. „Kaum bist du wieder hier krallst du dir innerhalb kürzester Zeit den Schulschnuckel.“, plapperte sie weiter.
„Ich kralle mir gar nichts.“, entgegnete ich genervt.
„Ich dachte ja eigentlich du stehst auf Tay, aber Luan hat es dir ganz schön angetan, was?!“, grinste sie mich an.
„Tay?“, fragte ich verblüfft. Den Rest ignorierte ich einfach.
Inna nickte heftig.
Ich drehte mich zu dem Tisch um, an dem Tay mit den anderen saß. Sie schienen gerade in ein ernstes Gespräch vertieft zu sein. Ein flaues Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Wie konnte ich denn bitte auf jemanden stehen, der froh war, dass ich einen Unfall gehabt hatte. Ich hätte schließlich auch sterben können.
In diesem Moment merkte ich, dass ich zum ersten Mal davon ausging, dass noch etwas Schlimmeres hätte passieren können. Bis jetzt hatte ich immer angenommen, dass selbst der Tod noch ein angenehmerer Ausgang des Unfalls gewesen wäre.
„Dein Handy leuchtet.“, holte Inna mich zurück in die Realität. Ich schaute erwartungsvoll auf das Display. Luan hatte geschrieben, dass es ihm nur nicht so gut ginge und er wohl erst in einigen Tagen wieder zur Schule kommen würde. Das war der erfreuliche Teil der Nachricht. Im weiteren Teil bat er mich allerdings darum ihm sein Notenheft aus dem Proberaum der Schule zu bringen. Im Grunde hätte das auch gut einer der anderen Jungs machen können, aber angesichts der geschehenen Ereignisse, wollte ich ihm diese Bitte nicht abschlagen.
Nach Ende der letzten Stunde machte ich mich also auf den Weg in den Proberaum. Ich hatte wenig Lust und beeilte mich. Ich strebte an, wieder verschwunden zu sein, bevor die anderen zur Probe aufkreuzten. Doch leider wurde mein Plan von Tay zu Nichte gemacht. Er räumte gerade einige Kabel aus dem Schrank und stöpselte sie in seine Gitarre.
„Was machst du denn hier?“, fragte er mich mit hochgezogenen Augenbrauen, als ich die Tür einen Spalt öffnete und mich hindurch schob.
„Ich soll Luan’s Notenheft abholen.“, sagte ich.
Tay schien nicht zu wissen, was er darauf antworten sollte. Verblüfft starrte er mich an.
„Kannst du mir sagen, wo es ist?!“, wollte ich von ihm wissen. Daraufhin ging er zu einem Regal und kramte unter einem Stapel Hefte Luan’s heraus.
„Du hast es ihm ja ganz schön den Kopf verdreht.“, meinte Tay.
Ich ignorierte seine Bemerkung und wollte ihm das Heft aus der Hand nehmen, doch er riss es zurück und schaute mich abwartend an.
„Was?“, fragte ich ihn. Allmählich wurde ich genervt.
„Sagst du dazu nichts?“, drängte er mich und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
„Was soll ich dazu sagen?!“, erwiderte ich.
Tay ging näher auf mich zu. Ich wich zurück und spürte schon die Tür in meinem Rücken. Er machte eine ruckartige Bewegung auf mich zu, sodass die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Grinsend stützte Tay sich mit der Hand gegen die Tür, sodass ich zwischen eben dieser und ihm eingepfercht war.
„Ich versteh’ schon, was er in dir sieht. Aber ich wünschte er würde es nicht tun.“, bemerkte er und sah mich durchdringend an. Ich nahm Tay’s Duft wahr. Mir wurde ein wenig schwindelig. Meine Knie wurden ganz kribbelig und ich schluckte schwer. Er war mir einfach viel zu nah.
„Kann ich jetzt gehen?“, brachte ich heraus. Leider klang meine Stimme weniger fest, als ich gehofft hatte.
Tay’s Mund verzog sich zu einem selbstsicheren Grinsen. Jenes Grinsen, das ich nur allzu gut kannte. Er nahm die Hand von der Tür weg, trat einen Schritt nach hinten und streckte mir das Notenheft entgegen.
Als ich den Raum endlich verlassen hatte, konnte ich gar nicht schnell genug die Flucht ergreifen. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Plötzlich musste ich mir eingestehen, dass ich wohl doch schon immer etwas für Tay übrig gehabt hatte. Ich hatte es nur über die Jahre verdrängt. Es war mir damals egal gewesen, dass er eine Zahnspange hatte und dass er auch sonst nicht unbedingt gut ausgesehen hatte. Seine fürsorgliche Art hatte ihn schon immer attraktiv gemacht. Er strahlte Fröhlichkeit aus und Ruhe. Genau die Dinge, die mir in den letzten Jahren gefehlt hatten. Ich hatte Tay schon fast vergessen. Doch, dass er mir jetzt so präsent war und dass er auch noch unglaublich gut aussah, machte es nicht gerade einfacher zu ignorieren, was mein Körper mit mir machte, sobald ich ihn sah. 

Luan hatte mir seine Adresse geschrieben und so machte ich mich auf den Weg zu seinem Haus. Zu meiner Überraschung wohnte er sogar ganz bei mir in der Nähe. Die herbstliche Luft tat ungemein gut. Mein Kopf hörte auf zu pochen und auch mein Herz schien wieder in seinem gewöhnten Rhythmus zu schlagen.
Das Haus in dem Luan wohnte war weiß mit einem roten Dach. Das Gras, das den gepflasterten Weg umrahmte, war ordentlich gemäht und vor dem Eingang stand ein großer Blumenkübel mit frischen bunten Blüten. Ich drückte die Klingel und wartete. Kurz darauf wurde mir die Tür von einer kleinen dunkelhaarigen Frau geöffnet. Sie trug ein knöchellanges Kleid und eine weinrote Strickjacke. Ihr Haar war zu einem ordentlichen Knoten zusammen gebunden und sie lächelte mich freundlich mit schmalen Augen an.
„Guten Tag, Mrs…“, da fiel mir auf, dass ich Luan’s Nachnamen nicht kannte. „Ich bringe Luan’s Notenheft.“, fuhr ich zögernd fort.
„Komm rein, komm rein. Er ist oben in seinem Zimmer.“, sagte sie und zog die Tür weiter auf. Sie bedeutete mir ihr zu folgen und so ging ich hinter ihr die Treppe hinauf. Das Haus war von innen ähnlich aufgebaut wie meins. Im Treppenhaus und oben im Flur waren zahlreiche Bilder an den Wänden angebracht. Viele davon zeigten Luan. Auf einigen war er mit Yuni zu sehen und auf einigen mit einem anderen Jungen, der einige Jahre älter aussah als er. Ich ging davon aus, dass es sich um Kai handeln musste. Sofort überkam mich eine Art von Trauer. Ich bildete mir plötzlich ein nachempfinden zu können, wie sich dieser Verlust für Luan anfühlen musste. Das Gefühl von Verantwortung die man für etwas trägt oder sich zumindest einbildet sie zu tragen.
Luan’s Mutter blieb schließlich vor einer Tür stehen. Sie klopfte kurz und verschwand dann wieder in Richtung Treppe.
„Ja?“, hallte es von innen.
Ich öffnete langsam die Tür und steckte zunächst meinen Kopf hinein.
Luan lag auf seinem Bett. Er hatte den Laptop auf seinem Bauch und schien ziemlich vertieft zu sein. Als er mich bemerkte, setzte er sich auf und stellte den Laptop neben sich ab.
„Hey, du bist hier.“, bemerkte er.
Ich nickte und trat ein, schloss die Tür hinter mir.
„Hier.“, meinte ich und streckte ihm das Heft entgegen.
„Musst du gleich schon wieder los?“, fragte er. „Ich schulde dir doch noch ein vorspielen.“, grinste er und griff nach einer Gitarre, die neben seinem Bett auf dem Boden lag.
„Du spielst auch Gitarre?“, fragte ich, da ich bis jetzt angenommen hatte, er würde nur Bass spielen.
Er nickte und deutete auf den freien Platz neben sich auf dem Bett.
Ich lehnte mich gegen die kühle Wand und schaute Luan dabei zu, wie er die Gitarre kurz nachstimmte.
Kurz darauf stimmte er ein Lied an, welches ich als eines vom Konzert wieder erkannte. Ich schloss die Augen und lauschte dem Klang der Gitarrensaiten. Ich konnte kaum glauben, dass Tay dieses Lied geschrieben haben soll. Sofort hatte ich ihn vor meinem inneren Auge. Wie er an seinem Klavier zuhause saß, konzentriert Noten eintrug, sich den Bleistift in den Mund steckte und mit den Fingern über die Tasten glitt. Danach würde er seine Gitarre nehmen und das Arrangement machen. Ich fragte mich, ob es für ihn etwas ganz Besonders war Lieder zu schreiben, oder ob er es als Selbstverständlichkeit betrachtete. So wie ich einst das Klavierspielen als selbstverständlich angesehen hatte. Es war im Grunde etwas, auf das man stolz sein sollte, egal wie gut oder schlecht man war und egal ob es einem leicht fiel oder man hart arbeiten musste. Irgendwie fand ich sogar, dass man auf Talent kaum stolz sein konnte. Man hatte immerhin gar nichts dafür getan. Das war wohl auch der Grund dafür gewesen, dass ich von den anderen auf der Prideston so gehasst wurde. Ich hatte mir auf mein Talent dermaßen viel eingebildet, dass ich mich für etwas Besseres gehalten hatte. Dabei wäre es umso besser gewesen, hätte ich wirklich dafür gearbeitet. Natürlich hatte ich Stunden damit verbracht Klavier zu spielen, Noten zu lernen, Lieder zu studieren - aber während ich ein Lied mit Leichtigkeit beherrschte, war es Tay immer schwerer gefallen. Dies hatte die Kluft zur Folge, die sich zwischen uns aufgetan hatte.
„An was denkst du?“, fragte Luan und holte mich aus meinen Gedanken.
Ich schüttelte nur den Kopf und lächelte ihn müde an.
„Willst du auch mal spielen?“, fragte er mich und grinste. Seine braunen Augen leuchteten derart, dass ich von ihnen in einen Bann gezogen wurde.
„Aber ich kann doch gar nicht Gitarre spielen.“, meinte ich etwas verdutzt.
„Ist doch egal.“, meinte er und zuckte mit den Schultern. „Wenn du schon nicht mehr Klavier spielst, versuch es doch erst einmal hier mit. Wäre doch ein erster Schritt.“, erklärte er und bedeutete mir, mich neben ihn zu setzen.
Ich rutschte also an die Bettkante. Luan gab mir die Gitarre. Ich legte sie auf meinem Schoß ab und griff den Hals. Die Gitarre war schwerer, als ich angenommen hatte. Das Gewicht drückte auf meinen Körper. Ein Kribbeln zog durch meine Hände.
„Hier ich zeig dir was.“, meinte Luan und schob sich neben mich. Er nahm meine Finger und legte sie auf den Saiten zu einem Akkord.
„Das ist ein F.“, meinte er und nickte in Richtung der Saiten.
Vorsichtig ließ ich meine Fingerspitze darüber gleiten. Allerdings fand ich hörte sich der Ton schrecklich an. Erschrocken zuckte ich zusammen. Luan lachte.
„Du musst die Saiten stärker drücken. Glaub mir, die Schwielen kommen nicht von ungefähr.“, sagte er und hielt mir seine Finger vor die Nase.
Er griff nach meiner Hand und nahm sie vom Hals. Er schob sich noch näher an mich heran, sodass ich seinen warmen Atem in meinem Nacken spüren konnte.
„Ich halte die Akkorde und du spielst.“, meinte er leise. Ich nickte vorsichtig.
     Ich konnte das Gefühl, das mich in diesem Moment beschlich nicht erläutern. Es war eine Mischung aus einer unangenehmen Beklommenheit und Erleichterung. Alles mit Luan schien so einfach. Selbst seine Berührungen wirkten unbefangen und ehrlich. Ich musste mir keinen Kopf machen, ich konnte mich blind auf alles einlassen. Aber genau das war es, was mich so vorsichtig werden ließ. Es war beinah zu einfach. Zu unkompliziert. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Freundschaft auf diese Art funktionierte.

Spät am Abend saß ich auf meiner Fensterbank und schaute in den Sternenhimmel hinauf. Doch die Lichter der Stadt leuchteten so hell, dass man die Sterne nur als kleine glimmende Punkte erahnen konnte, die zu verschwinden drohten. Ich hatte die Notenblätter vor mir ausgebreitet, auf denen ich Tay’s Lied eingetragen hatte. Und wie so oft, schallte die liebliche Melodie in mein Ohr.
‚Lausche der Musik und lasse sie in dein Herz.‘, hatte Tay immer gesagt. Ich hatte immer geglaubt zu wissen, was dies heißt. Aber wenn ich jetzt Tay’s Lieder hörte, wurde mir bewusst, wie falsch ich die ganze Zeit über lag.
Ich seufzte geknickt, schloss müde die Augen und wünschte mir ich könnte die Zeit zurück drehen. Ich hätte ihn nicht einfach so ziehen lassen. Ich hätte Zeit für ihn gefunden, ihm zugehört und die Musik geliebt. Es war, als hätte irgendetwas in mir einen Schalter umgelegt. Ich hasste es mir einzugestehen, dass ich falsch lag, aber mir blieb nichts anderes mehr übrig, als genau das zu erkennen. 
    Ich dachte an den Tag zurück, an dem ich zum ersten Mal vor meiner Mutter Klavier gespielt hatte. Mal wieder hatte Maeng mich mit ihren bitterbösen Worten klein machen wollen. Gemma hatte ein Stück auf der Geige tadellos gespielt, während ich neben ihr auf den Saiten kratzte und kaum einen geraden Ton zu Stande gebracht hatte. Maeng’s Mund war zu einem selbstgefälligem Lächeln verzogen, während Tay mich gequält angesehen hatte. Seine Eltern hielten sich an den Händen, tauschten einige wehleidige und fragende Blicke. Ich wusste nicht, ob sie auf Seiten meiner Mutter waren, die mich dazu zwang Geige zu spielen, oder ob sie Mitleid mit mir hatten. Meine Mutter schüttelte traurig den Kopf. Trauer stieg in mir auf und ich wollte am liebsten weglaufen. Doch dieser Tag war anders gewesen. Obwohl es sonst meine Art war die Flucht zu ergreifen, blieb ich standhaft. Ich spielte das schreckliche Stück zu Ende und stellte mich Maeng’s offener und beleidigender Kritik. Sie hatte es wohl nie gelernt ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
Tay war es gewesen, der sie zum Schweigen brachte. Er brüllte sie an, was zur Folge hatte, dass seine Eltern entsetzt von ihren Stühlen aufsprangen und sich bei Maeng für das Verhalten ihres Sohnes entschuldigten. Doch er ließ sich nicht beirren. Er erzählte meiner Mutter, dass ich Klavier spielen würde. Zunächst lächelte sie nur amüsiert, während Maeng empört die Hände in die Luft warf und ihn zum Schweigen bringen wollte. Doch währenddessen hatte ich es unbeachtet zum Flügel geschafft, mich auf de Hocker fallen lassen und spielte den ersten Ton.
Ich konnte mich genau an die Totenstille erinnern. Alle hatten den Atem angehalten. Als ich fertig war, brach meine Mutter in Tränen aus. Ich blickte zufrieden in Maeng’s erblasstes und regungsloses Gesicht. Sie sagte keinen Ton, schaute mich entgeistert an und ich war mir sicher sie hoffte alles sei nur ein böser Traum. Tay klatschte laut in die Hände, schlag mir die Arme um den Hals und blickte meine Mutter mit gehobenen Kinn an.
Es war der Anfang und das Ende. Jener Tag wurde wahrscheinlich zum Bedeutendsten meiner Kindheit. Ich hatte die lästige Geige von mir gestoßen, Maeng aus der Fassung gebracht und meiner Mutter Tränen der Freude aus den Augen gelockt.
Mein Herz fuhr unwillkürlich zusammen. Ich spürte wie Tränen über meine Wangen rollten und auf mein Shirt tropften, wo sie den Stoff einige Nuancen dunkler färbten. 
Wann würde ich je wieder so ein Gefühl bekommen. Das Gefühl etwas unerreichbares geschafft zu haben. So, wie ich mich jetzt verhielt, würde ich niemanden mehr stolz machen können. Nein, viel mehr war ich zu einer Witzfigur geworden. Ein gefallener Engel, eine gestürzte Königin. Man hatte mich von meinem Thron gedrängt und ich hatte nicht einmal einen Finger gerührt, um mir meine Position zurück zu holen. Doch damit war jetzt Schluss. Ich hatte es satt meine Mutter zu enttäuschen. Ich wollte sie nicht mehr traurig sehen, sondern sie stolz machen. Auf welche Art und Weise ich das auch schaffen würde.
Tay hatte immer alles für mich getan und jetzt musste ich alles für ihn tun. Wenn auch im übertragenen Sinne. Ich war es ihm, meiner Mutter und auch mir selbst schuldig das Steuer in die Hand zu nehmen und den Kurs zu ändern. Ich war seit einem Jahr wie ein führerloses Schiff auf dem weiten Ozean umher getrieben. Doch jetzt war es an der Zeit die Segel zu hissen und mit voller Kraft das nächste Ziel anzusteuern.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten, biss die Zähne zusammen und fasste einen Entschluss. 

Am Morgen klingelte mich der Wecker zu sehr früher Stunde aus dem Bett. Eine Sekunde lang bereute ich meinen Entschluss der letzten Nacht, doch schnell genug schüttelte ich diesen Gedanken von mir ab. Ich zog mich an, band meine Haare zu einem Zopf zusammen und schnappte mir die Notenblätter von der Fensterbank. Zusammen mit meinem I-Pod und meinen Schulheften versenkte ich alles in meinen Rucksack und ging leise die Treppe hinunter. Ich zog mir Stiefel und Jacke an, nahm den Schlüssel vom Haken und verließ das Haus. Ich ging auf dem schmalen Kiesweg um das Haus herum zum Schuppen, holte mein Fahrrad und fuhr los in Richtung Schule.
Die frische Morgenluft tat ungemein gut. Blätter tanzten in der Luft und ab und zu lugte die Sonne durch die grauen Wolken. Hätten meine Hände nicht vor Kälte angefangen zu brennen, hätte ich das nasse Herbstwetter glatt genießen können.
    In der Schule angekommen, ging ich über den großen Parkplatz direkt zum Musiktrakt. Nur vereinzelt war hier und dort ein Auto geparkt. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch gut eine Stunde Zeit hatte, bis die ersten Schüler die Flure der Schule heimsuchen würden. Zum Glück waren viele der Lehrer aber schon anwesend und bereiteten den Unterricht vor. Denn sonst, wäre die schwere Metalltür zum Musiktrakt sicherlich noch verschlossen gewesen.
Ich atmete tief ein, drückte die eisige Klinke hinunter und betrat das Gebäude. Warme, stickige Luft preschte mir entgegen. Ich brauchte einige Atemzüge, ehe sich meine Lunge an die drückende Luft gewöhnt hatte. Morgens war es meist noch sehr warm in den Gebäuden, während es den Tag über schnell abkühlte. Dies lag sicher daran, dass die Heizungsanlage seit den frühen Morgenstunden in vollen Gängen lief, Türen und Fenster aber geschlossen blieben, sodass sich die warme Luft in jeden Winkel drücken konnte und die Fenster beschlug.
Ich ging geradewegs in meinen alten Übungsraum. Wahrscheinlich war dies das erste Mal, dass ich so von diesem Raum dachte. Eine Zeit lang war er wie mein zweites Zuhause gewesen und hatte das Baumhaus damit nach hinten gedrängt. Der Flügel stand glänzend in der Mitte des Raumes. Ein wenig ehrfürchtig schritt ich darauf zu. Ich ließ meinen Rücksack auf den Boden fallen, zog meine Jacke aus und umrundete das schwarze, große Etwas, das sich vor mir auftat und mir so seltsam fremd vorkam, als hätte ich nie in meinem Leben einen Flügel gesehen. Ich strich über das glatte Holz, welches sich unter meinen Fingern kalt und hart anfühlte. Schließlich starrte ich auf die Tasten. Ich ließ mich auf den kleinen Hocker nieder und schaute wie gebannt auf die weiße Masse vor mir. Meine Finger fingen an zu kribbeln. Mir wurde plötzlich noch wärmer und Schweißtropfen brauten sich auf meiner Stirn zusammen. Ich biss mir auf die Unterlippe, kniff die Augen zusammen. Ich trommelte mit den Fingern auf dem Hocker herum. Das hatte ich während der Reha gelernt. Das Gefühl in meinen Händen kehrte langsam zurück, das Kribbeln ließ nach.
Seufzend erhob ich mich wieder, entfernte mich erst einmal wieder vom Klavier. Es war doch eine ganz schöne Aufgabe, die ich mir da vorgenommen hatte. Ich wischte mir den Angstschweiß weg und lehnte mich gegen die Wand. Nur eine kurze Pause, um neuen Mut zu fassen. 
Ich holte die Notenblätter aus meinem Rucksack und setzte mich fürs Erste an eines der Keyboards, die im hinteren Teil des Raumes in ordentlichen Reihen aufgestellt waren. Mehr traute ich mir momentan noch nicht zu.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, zwang mich quasi meine Hände auf die Tasten zu legen. Ich hätte niemals gedacht, dass es mir so schwer fallen würde ein Keyboard zu berühren. Es würde noch nicht einmal einen Ton von sich geben und dennoch war ich unglaublich nervös. Ich schluckte den schweren Kloß in meinem Hals hinunter. Augen zu und durch!
Meine Hand schnellte nach vorn und presste sich mit aller Kraft auf die schwarzen und weißen Plastiktasten. Erleichtert pustete ich die Luft aus. Es fühlte sich an, als wäre ein Stein von mir abgefallen, als wäre das Seil gerissen, das gerade dabei gewesen war mir meine Luftröhre zuzuschnüren.
Der erste Schritt war getan.

So verharrte ich eine Weile. Eine gefühlte Ewigkeit sog ich das Gefühl in mir auf, versuchte mich an all die schönen Momente zu erinnern. Ich hörte liebliche Melodien in meinem Kopf und spürte, wie meine Finger ab und an zuckten, da sie der Musik in meinen Gedanken folgen wollten.
Schließlich studierte ich das Notenblatt genau. Ich schaute mir jede Note wieder und wieder an. Nicht, weil ich sie verinnerlichen wollte, sondern weil ich jeden Ton erst mit meinem inneren Ohr hören wollte, bevor ich ihn spielte. Vorsichtig drückte ich eine der Tasten hinunter. Die Stille, die hier herrschte war beinah erstickend. Die nächste Taste wurde von mir herunter gedrückt. Nach und nach spielte ich stumm das Lied. Allerdings sehr langsam. Ich hatte immer noch Angst, dass meine Finger bei schneller Bewegung verkrampfen würden. Es war schon eine Überwindung überhaupt Tasten in einer bestimmten Folge zu spielen und nicht nur wahllos auf ihnen herum zu hacken. Am liebsten hätte ich gern all meine angestaute Wut und Trauer an dem Keyboard ausgelassen. Aber ich ermahnte mich ruhig zu bleiben. Sobald ich auch nur den Hauch eines Schmerzes in meinen Fingern spürte, legte ich sofort eine Pause ein. Es würde eine Weile dauern, bis ich mich trauen würde das Stück stumm im richtigen Tempo zu spielen. Und noch länger würde es dauern, bis ich das Keyboard einschalten würde.
Es war irgendwie ernüchternd zu wissen, wie tief ich gefallen war. Saß ich doch einst so weit oben auf meinem Thron der Unantastbarkeit, schmollte ich nun im Graben, wie eine vertriebene Hochstaplerin, der ihre Finger abgehakt wurden. Nur, dass meine Finger noch dran waren. 



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