Samstag, 2. Mai 2015

Piano Girl - Im Herzen spielt die Musik - KAPITEL 6

Eigentlich war es meine Absicht gewesen mit meinen Worten die Situation zwischen Luan und mir wieder ins Lot zu bringen. Doch stattdessen war ich jedes Mal nervös, wenn ich zum Mittagessen ging. Er war wieder etwas freundlicher zu mir, hielt aber sorgsam Abstand und ich bemerkte auch, wie er jede Interaktion zwischen mir und Tay beobachtete. Ich gab mir wirklich größte Mühe nicht auf Tay’s Sticheleien einzugehen. Denn nach wie vor versuchte er mich aus der Reserve zu locken, doch das würde ihm nicht gelingen.
An einem Donnerstagmorgen saß ich mit tiefen Augenringen vor dem Klavier in der Schule. Ich starrte überglücklich auf das Blatt vor mir. Ich war fertig. Ich war endlich fertig. Ich hatte es geschafft. Dieses Lied bedeutete mir alles. Und bald wäre ich auch soweit es mit der ganzen Welt zu teilen. Es war nicht mehr allzu viel Zeit bis zu den Bewerbungen an der Enderson. Dieses Lied war meine Chance und meine Rettung. Auch wenn ich es nicht schaffen sollte, hatte ich etwas geleistet, was ich mir nie im Leben zugetraut hätte. Und das alles verdankte ich nicht etwa Tay, der die Vorlage zu einem Lied geschaffen hatte, was mich auf seltsame Weise inspirierte und bewegte, sondern Luan, der mir neue Möglichkeiten eröffnet hatte und durch den ich tatsächlich wieder angefangen hatte zu spielen. Ohne Druck und ohne Zwang.
Ich schrieb das Lied ein zweites Mal ab. Ich fühlte mich dazu verpflichtet Tay das Lied zu zeigen. Doch ich lehnte es strikt ab, auf ihn zuzugehen, ihm davon zu erzählen und ihn anschließend in den Proberaum zu schleifen, um ihm das Lied vorzuspielen. Es wäre ein zu intimer Moment, in dem ich mich mehr als unwohl gefühlt hätte. Luan das Lied von Kai vorzuspielen hatte auch schon eine einzigartige Atmosphäre geschaffen, die ich absichtlich und nur für ihn erzeugt hatte. Ich hätte vorher wissen müssen, dass die aufkommenden Gefühle Überhand gewinnen würden, was schließlich unsere Freundschaft zerstört hatte. Tay wollte ich einen solchen Moment nicht schenken. Das war er eindeutig nicht wert. Er hatte meine Aufmerksamkeit überhaupt nicht verdient. Mit nichts, von dem was er getan hatte, hatte er einen wertvollen Beitrag geleistet. So empfand ich auch, dass es eigentlich sein Lied war, das ich zu Ende geschrieben hatte, als einen Zufall. Das Lied hätte von jedem sein können. Hätte es nur die gleiche Aussage getragen und mich mit den sanften aber drängenden Klängen in seinen Bann gezogen.
Ich strich die Notenblätter sorgfältig glatt und schob sie in einen Umschlag. Ich war mir nicht sicher, ob ich Tay den Umschlag einfach wortlos in die Hand drücken sollte, oder ihn vielleicht einfach in seinen Spind schieben würde.
     Ich hatte mich für Letzteres entschieden und hielt es schon ungefähr fünf Minuten danach für eine blöde Idee. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Ich wartete nach der Schule auf Inna. Denn obwohl Luan und ich wieder miteinander sprachen, war nicht wieder alles beim Alten. Und so wurde ich immer noch von Inna nachhause gefahren oder fuhr mit dem Fahrrad zurück.
Plötzlich sah ich eine große Gestalt auf mich zuwanken. Ich kniff die Augen zusammen, wollte unsichtbar sein, aber natürlich gelang es mir nicht.
„Kia!“, sagte er und schaute mich eindringlich an.
Ich erwiderte nichts.
„Kann ich kurz mit dir reden?“, wollte Tay wissen. Er hielt meinen Umschlag in der Hand.
„Rede.“, meinte ich knapp.
Er schaute sich zu allen Seiten um, griff nach meinem Handgelenk und zog mich schließlich die Treppe hinunter und schleifte mich um das Schulgebäude herum. Hier waren wir allein. Zumindest so allein, dass uns niemand hören würde.
„Ist das für die Enderson?“, fragte er.
Ich zuckte zusammen. „Woher weißt du davon?“, fragte ich und überlegte fieberhaft, wer mich verraten hatte. Doch ich hatte absolut niemandem davon erzählt. Da fiel mir der Ausdruck in meinem Zimmer ein. Luan war bei mir gewesen, vielleicht hatte er das Blatt gesehen. Aber er würde es nicht Tay erzählen. Oder doch?! Nein, bestimmt nicht. Aber vielleicht einem der anderen Jungs…
„Ich kenne dich einfach.“, grinste er.
Stille entstand. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und auch Tay schien sich nicht gut genug überlegt zu haben, was er eigentlich genau von mir wollte.
„Also eigentlich wollte ich mit dir sprechen, weil am Wochenende ein Infokurs zu dem Studiengang ist, aber das wusstest du bestimmt schon.“, sagte er.
„Ja, und?!“, meinte ich und tat so, als wäre ich bestens informiert.
„Ich dachte wir könnten vielleicht zusammen hinfahren?!“, fuhr er fort.
Verdutzt blickte ich ihn an.
„Außer du fährst schon mit jemand anderem.“, fügte er hinzu.
Tatsächlich wollte ich unglaublich gern zu dem Infokurs. Inna würde sicherlich das ganze Wochenende mit Chen verplant sein und meine Mutter sollte noch gar nichts von meinem Vorhaben wissen. Eigentlich sollte niemand davon wissen.
„Hast du es irgendjemandem erzählt?“, fragte ich Tay ernst.
Er schüttelte den Kopf.
„Dann lass uns fahren.“, bestätigte ich und nickte. Ich hatte kaum eine andere Wahl. Ich hasste das unterschwellige Grinsen, das sich auf Tay’s Lippen geschlichen hatte.
„Ich hol dich dann Samstagfrüh ab.“, meinte er.
Ich saß stumm neben Tay im Auto und starrte aus dem Fenster. Es ging mir gar nicht gut. Es war als würde ich das letzte Jahr noch einmal erleben. Mein Herz klopfte in meiner Brust und es lag definitiv nicht an Tay. Die Fahrt kam wir wie eine unglaublich lange und unangenehme Reise vor. Als wir endlich auf dem Parkplatz hielten, hatte ich das Gefühl es waren mehrere Tage vergangen.
Ich stieg aus dem Wagen und sah das große Gebäude vor mir. Mit einem Mal wurde mir schlecht und schwindelig. Ich hielt mir den Kopf, schloss die Augen und strauchelte. Sofort war Tay an meiner Seite und hielt mich fest.
„Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt.
Ich schüttelte nur den Kopf. In jeder anderen Situation wäre ich nicht auf seine Geste eingegangen, doch gerade war ich einfach nur froh, dass er hier war und lehnte mich an ihn.
„Willst du dich kurz hinsetzen?“, fragte er.
„Ich kann das nicht.“, meinte ich.
Tränen drückten gegen meine Augen. Ich wollte mich auf den Boden sinken lassen. Es lastete ein unglaublicher Druck auf mir. Alle Erinnerungen schossen zurück in meinen Kopf.
„Ich kann das nicht.“, wimmerte ich. Die Leute um uns herum beäugten uns seltsam und Tay wusste nicht wirklich, wie er mit der Situation umgehen sollte.
„Was kannst du nicht?“, wollte er wissen.
Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Die Tränen schossen aus meinen Augen.
„Kia, hey. Was ist los?“ Tay nahm mein Gesicht in seine Hände und zwang mich ihn anzusehen. „Sprich mit mir.“, forderte er mich auf. „Bitte.“
„Es ist alles wie damals.“, brachte ich stotternd hervor.
Und plötzlich begriff Tay, was ich meinte.
„Oh, verdammt.“, meinte er und betrachtete die Enderson. Das Gebäude lag schweigend vor uns. Es sah friedlich aus doch ich hatte das Gefühl es würde mich jederzeit verschlingen. Ich spürte ein Pochen in meinen Fingern. Einen stechenden Schmerz.
„Es tut so weh.“, jammerte ich und schaute auf meine Hände hinab.
Tay folgte meinem Blick. „Deine Hände?“, fragte er verwirrt.
Ich roch das verbrannte Gummi. Mühsam hatte ich mich aus dem Auto gezogen.
„Mom! Mom!“, schrie ich.
„Kia!“, redete Tay auf mich. „Alles ist gut! Deiner Mom geht es gut. Sie ist zuhause und ihr geht es gut. Ich bin bei dir. Du bist nicht allein. Heute ist nicht der Tag des Unfalls.“
Er nahm mich in den Arm. Dankbar schmiegte ich mich an seine Brust.
Eine gefühlte Ewigkeit später hatte ich mich endlich wieder gefangen. Gemeinsam gingen Tay und ich über den langen mit Bäumen gesäumten Weg auf die Universität zu.
Wir betraten das große Forum, in dem der Kurs stattfand. In den Reihen tummelten sich Massen an Schülern und viele waren mit ihren Eltern gekommen.
Mit einem Mal überkamen mich Selbstzweifel. All diese Schüler interessierten sich für den neuen Studiengang. Und es war jetzt schon sicher, dass davon nur eine Handvoll die Chance erhalten würden, tatsächlich hier zu studieren. Wahrscheinlich waren die meisten von ihnen begabte Songschreiber. Wieso sollte ich auch nur annähernd gut genug sein. Ich hatte gerade mein erstes Lied geschrieben und war gleich der Auffassung ich sollte in diese Richtung studieren.
„Ich bin so bescheuert.“, murmelte ich und schüttelte den Kopf.
„Hm?“, fragte Tay neben mir.
„Ich glaube ich würde lieber gehen.“, meinte ich und machte Anstalten auf dem Absatz kehrt zu machen und aus dem Forum zu gehen.
„Kommt gar nicht in Frage.“, meinte Tay und hielt mich fest. Er zog mich einige Stufen hinunter und schob mich in eine der Sitzreihen wo noch einige Plätze frei waren.
„Was soll das?“, quengelte ich.
„Das könnte ich dich fragen.“, erwiderte Tay.
„Schau dir das doch an. Ich habe keine Chance.“
Tay lachte. „Das weißt du doch gar nicht. Und gerade sollst du dir doch eh nur Informationen anhören.“
Mürrisch lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
     Ich war am Ende froh, dass Tay mich davon abgehalten hatte zu gehen. Je mehr der Professor erzählte, um so sicherer wurde ich mir, dass es sich genau um das handelte, was ich gern machen würde. Auch Tay schien meine ansteigende Begeisterung zu bemerken.
„Und schreibst du dich gleich ein?“, wollte er wissen, als wir uns aus der Reihe hinausdrängten und die Stufen wieder nach oben in Richtung Ausgang gingen.
„Quatsch.“, meinte ich und schüttelte den Kopf.
„Wieso nicht?“, fragte er. Ich schaute ihn verwirrt an. Meinte er das ernst?!
Der Professor hatte von einer Soforteinschreibung gesprochen. Jeder, der heute hier war hatte die Möglichkeit ein Kontaktformular auszufüllen. Einige wenige hätten dann das Glück und dürften zu einem Vorspielen kommen, das vor den eigentlichen Prüfungstagen stattfand. Man spielte also fast außer Konkurrenz.
Tay zog mich zu dem langen Tisch, der während des Kurses im Foyer der Universität aufgebaut wurde. Hier lagen Stifte herum und einige Mitarbeiter teilten die Formulare aus und erklärten den Bewerbern, was sie zu beachten hatten.
„Wenn du dich nicht einträgst, mach ich es.“, lachte Tay.
Er drängte sich durch die Schüler, die sich vor dem Tisch versammelt hatten und tauchte kurz darauf mit einem Formular und einem Stift wieder auf.
„Hier.“, meinte er und streckte mir beides entgegen.
Langsam, beinah in Zeitlupe griff ich nach dem Stift und dem Formular.
„Du kannst auf meinem Rücken schreiben.“, sagte er und drehte sich um.
Ich drückte das Blatt gegen seinen breiten Rücken und begann meine Daten einzutragen. Es war seltsam Tay auf diese Weise zu berühren. Es war irgendwie zu nah und zu intim. Obwohl ich ihn doch eigentlich nur als Schreibunterlage benutzte.
Als ich fertig war, nahm Tay mir das Blatt wieder ab. Erneut quetschte er sich durch die Traube aus Menschen, um das Formular abzugeben.
Mein Handy vibrierte in meiner Jackentasche. Ich zog es heraus. Es war Luan.
„Hallo?“, meldete ich mich etwas verwirrt.
„Hey.“, meinte Luan am anderen Ende der Leitung. „Wie geht’s dir? Was machst du gerade?“, fragte er.
„Mir geht es gut. Ich… bin unterwegs.“, stammelte ich, da ich keine passende Ausrede parat hatte.
„Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du heute Zeit hast.“
„Ich, also…“, begann ich. „Ich weiß noch nicht wann ich zuhause bin, aber dann hätte ich Zeit.“, meinte ich. Ich war irgendwie froh darüber, dass Luan anrief. Und gleichzeitig fühlte ich mich, als würde ich gerade etwas Verbotenes machen.
„Wo bist du denn?“, wollte Luan wissen. Er klang seltsam und ich war mir sicher er wusste genau, dass ich ihm etwas verheimlichte.
Im nächsten Moment steuerte Tay wieder auf mich zu. „Wollen wir dann?“, fragte er und deutete mit dem Finger in Richtung großer Eingangstür.
Ich nickte.
„War das gerade Tay?“, wollte Luan wissen.
Ich war zu perplex um zu antworten.
Tay war inzwischen losgegangen. „Kommst du?“, rief er mir zu.
„Ich wollte nicht stören. Ich leg jetzt auf.“, meinte Luan.
Dann dröhnte ein Tuten in mein Ohr. Ich ließ das Telefon sinken. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich war unfähig zu realisieren, was gerade passiert war.
„Ist alles in Ordnung?“, meinte Tay, der inzwischen wieder vor mir stand. Verwirrt schaute er auf das Handy in meiner Hand. „Wer war das?“, fragte er.
Ich antwortete nicht und trottete stattdessen entgeistert zum Auto zurück.
In all der Zeit hatte ich mir so viel Mühe gegeben es nicht wieder zu vermasseln. Und es hatte nicht einmal eine Minute gedauert, da war alles kaputt. Wie hatte ich nur so doof sein können.
Im Auto starrte ich immer wieder auf mein Handy. Ich hoffte Luan würde noch einmal anrufen oder mir zumindest schreiben. Aber er tat es nicht.
„Willst du mir nicht sagen, was los ist?“, fragte Tay.
„Das war Luan.“, sagte ich monoton ohne zu wissen, warum ich es ihm überhaupt verriet.
„Und?“, wollte Tay wissen.
„Er hat aufgelegt als er deine Stimme gehört hat.“, fuhr ich fort.
Tay schielte mich an. Ich wusste nicht, was er gerade empfand. Ob er zufrieden war, oder ob er verstand, dass mir das gar nicht passte.
Ich hielt es irgendwann nicht mehr aus und fing an eine Nachricht in mein Handy zu tippen. Ich wollte Luan erklären, warum ich mit Tay unterwegs war. Ich wollte es wieder gerade biegen.
„Schreibst du ihm jetzt etwa?“, wollte Tay wissen.
Ich ignorierte seine Frage.
„Kia, ehrlich! Das kann nicht dein ernst sein. Du rennst ihm total hinterher.“, meinte er und schüttelte den Kopf.
„Ich renne ihm nicht hinterher.“, japste ich.
„Und wie nennst du das dann?“, wollte er wissen und sein Ton wurde aggressiver.
„Ich nenne das Anstand.“, erklärte ich genervt.
„Anstand?“
„Ich hab etwas falsch gemacht und das muss ich wieder gerade rücken.“
„Was hast du denn bitte falsch gemacht?“, wollte Tay wissen.
„Ich hätte nicht mit dir hierher fahren dürfen.“
„Bitte?!“, entgegnete Tay aufgeregt.
„Ich wusste ganz genau, dass Luan das falsch verstehen würde und trotzdem habe ich mich darauf eingelassen.“
„Das kann nicht dein ernst sein.“, meinte Tay fassungslos.
„Ich hätte ihm zumindest Bescheid geben können, damit er die Situation nicht missversteht.“, plapperte ich weiter.
Ich hatte derweil meine Nachricht zu Ende geschrieben und drückte auf ‚senden‘. Ich bat Luan um ein Treffen, bei dem ich ihm alles erklären würde und entschuldigte mich für mein Handeln.
Natürlich wusste ich, dass es an sich nicht falsch gewesen war mit Tay zu diesem Infokurs zu fahren. Denn schließlich hatte ich niemanden anderen gehabt, der mich hätte fahren können. Und hätte Tay mich nicht erst auf den Kurs aufmerksam gemacht, hätte ich gar nichts davon gewusst.
Ich war nicht FÜR Tay gefahren und eigentlich war ich auch nicht MIT Tay gefahren, sondern hatte mich lediglich von ihm fahren lassen.
Luan reagierte nicht auf meine Nachricht. Auch nicht auf die Zweite und Dritte. Seufzend gab ich auf.
Tay sprach die Fahrt über kein Wort mit mir. Grimmig starrte er geradeaus.
Erst, als wir fast zuhause angekommen waren, bemerkte ich, wie sehr mich Luan abgelenkt hatte. Ich hatte während der gesamten Rückfahrt kein einziges Mal an den Unfall gedacht. Ich hatte ausschließlich daran gedacht, was ich Luan sagen würde.
„Kannst du mich bitte bei Luan rauslassen?“, durchbrach ich irgendwann die Stille. Ich wusste es war viel verlangt, aber ich musste Tay wissen lassen, wie wichtig mir Luan war. Anscheinend hatte er es bis jetzt nicht ganz begreifen wollen. Er verkrampfte die Hände am Lenkrad und ich spürte wie angespannt und wütend er war.
Doch er fuhr mich tatsächlich zu Luan’s Haus.
Ich wollte gerade die Beifahrertür öffnen, da hielt mich Tay auf.
„Du magst ihn wirklich, hm?!“, fragte er ohne mich dabei anzusehen.
Ich schaute ihn überrascht an und wusste nicht was ich antworten sollte.
„Ich dachte wir beide hätten was Besonderes.“, sagte er matt. „Ich wollte die ganze Zeit glauben, dass zwischen uns etwas Besonderes ist. Dabei habe ich übersehen, dass du gar nicht mehr bei mir warst.“
Ich entgegnete nichts. Ich hätte nie geglaubt, dass er fähig war, so etwas zu sagen.
„Kannst du mir eine Frage beantworten?“, wollte er wissen.
„Welche?“
„Wenn es nicht er gewesen wäre, wäre ich es?“, fragte er und schaute mich an. In seinen Augen lag Schmerz und Hoffnung. Ich schluckte und schüttelte schließlich den Kopf.
„Wann habe ich dich verloren?“
„Du hast mich gehen lassen.“, meinte ich und presste die Lippen aufeinander.
Tay schüttelte den Kopf.
„Damals habe ich mich von all meinen Freunden abgewandt. Ich hatte andere Prioritäten. Aber zu einer verlorenen Freundschaft gehören immer Zwei. Der, der sich abwendet und der, der ziehen lässt. Inna hat mich nicht ziehen lassen. Du schon.“
„Also gibst du mir die Schuld?“, fragte Tay geknickt.
„Ich gebe uns beiden die Schuld.“, widersprach ich.
„Aber ich dachte wir hätten uns wieder gefunden.“
Ich schwieg einen Moment. „Das haben wir auch. Aber du willst nicht nur Freundschaft.“, brachte ich es endlich auf den Punkt.
Tay schüttelte den Kopf und wandte den Blick von mir ab. „Ich wollte noch nie nur Freundschaft. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, dass du es nie bemerkt hast. Vielleicht war ich ja auch nicht offensichtlich genug. Oder vielleicht war ich einfach der Meinung, dass du besseres verdient hättest als mich.“
„Sag so etwas nicht.“, sagte ich. Mir gefiel nicht in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickelte. Es fühlte sich so an, als würde Tay versuchen mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Und ich würde sicher nicht darauf eingehen.
„Ich sollte jetzt besser gehen.“, meinte ich und wollte die Unterhaltung damit beenden.
„Ich hoffe es klärt sich alles zwischen dir und Luan. Du bist mir wichtig, Kia und ich möchte, dass du glücklich bist. Bitte denk nicht, dass ich irgendetwas getan habe, um dir zu schaden.“, sagte er nüchtern.
„Ich weiß.“, antwortete ich und stieg aus dem Auto aus.
Ich fühlte mich erleichtert. Es waren unausgesprochene Worte zwischen mir und Tay, die nun endlich gesagt wurden. Sicherlich gab es etwas zwischen uns. Das konnte niemand leugnen und man konnte es auch nicht verbergen. Aber es war einfach nicht das, was man zunächst glauben mochte. Es war eine tiefe Verbindung, die wir seit unserer Kindheit teilten. Wir wussten wie der andere war, was der andere dachte. Auch wenn ich kurz glaubte, meinen Tay nicht mehr in dem hübschen Sänger zu finden, erkannte ich nun, dass ich damit falsch gelegen hatte. Ich hatte mich blenden lassen von seiner optischen Veränderung. Er war genau wie vorher. Er war der liebe und nette Junge, der mir immer geholfen hatte, wenn ich ihn brauchte. Wir waren Freunde und das auch noch heute. Wir waren eine Einheit, die man nicht trennen konnte. Und wahrscheinlich war es auch genau dies, was Luan erkannte. Er sah, dass Tay und ich im Grunde unzertrennlich waren. Egal wie sehr wir es auch versuchten, wir waren wie eine Person. Wir hatten etwas so Unbezahlbares und Wertvolles, für das uns andere beneideten und was uns auch niemand nehmen konnte. Niemals.

Ich klingelte an Luan’s Haustür. Hinter mir hörte ich, wie Tay’s Auto losfuhr und schließlich in der Ferne verschwand.
Endlich wurde die Tür geöffnet. Mein Herz hämmerte, meine Finger kribbelten. Ich war unglaublich nervös.
„Guten Abend, Mrs. Seon. Ist Luan zuhause?“, begrüßte ich Luan’s Mutter.
„Kia! Dich habe ich ja schon eine Ewigkeit nicht gesehen. Wie geht es dir? Na los, komm rein. Möchtest du einen Tee oder etwas zu essen?“
„Vielen Dank. Ich brauche wirklich nichts, ich müsste nur kurz einmal mit Luan sprechen.“
„Er ist oben in seinem Zimmer. Du weißt ja, wo es ist.“, ließ mich seine Mutter hinein und deutete die Treppe nach oben.
Ich atmete tief durch, zog meine Schuhe aus und erklomm die Stufen. Vor Luan’s Tür hielt ich kurz Inne. Dann klopfte ich an die Tür.
„Ja?“, hörte ich seine Stimme. Ich wäre beinah umgedreht, doch dann nahm ich mich zusammen und öffnete die Tür. Ich steckte meinen Kopf durch den Spalt.
„Luan?“, fragte ich. Luan saß auf seinem Bett mit seiner Gitarre in der Hand. Ich hatte das Gefühl er würde immer nur Gitarre spielen und nicht Bass. Er sah hoch und schaute mich überrascht an.
„Was machst du denn hier?“, fragte er und legte die Gitarre zur Seite.
„Du hast nicht auf meine Nachrichten reagiert.“, meinte ich und bemerkte das Handy, das neben ihm auf dem Bett lag.
„Ich wollte dir das alles einmal erklären, bevor du einen falschen Eindruck hast.“, fuhr ich fort.
Luan sah mich ausdruckslos an. Er war anders als sonst. Distanzierter, kühler.
„Ich war mit Tay bei der Enderson. Wegen eines Infokurses.“, begann ich. „Er hatte mich in der Schule angesprochen und angeboten mich zu fahren.“
„Enderson?“, hakte Luan nach.
Ich tat einige Schritte auf ihn zu. „Weißt du noch, dass du mir gesagt hast, ich solle mir einen neuen Weg suchen?!“
Er reagierte nicht.
„Die Enderson hat einen neuen Studiengang der sich auf das Komponieren spezialisiert hat. Der Infokurs hat sich damit befasst, also wollte ich unbedingt hin. Und ich habe mich sogar schon eingeschrieben.“, erläuterte ich.
„Mit Tay’s Lied?“, fragte er.
Ich war etwas überrumpelt. Woher wusste er davon.
„Ich hab den Umschlag gesehen, Kia.“, sagte er.
Ich schluckte. Ich wusste wie das auf ihn wirken musste.
„Ich kann das erklären.“, versuchte ich es.
Doch Luan schüttelte den Kopf. „Das brauchst du nicht.“
„Aber, Luan. Es war sein Lied, ich war es ihm schuldig.“
„Ich verstehe schon. Kannst du dann jetzt wieder gehen?“
Ich zuckte zurück.
„Wieso bist du so?“, fragte ich. Seine Worte hatten mich verletzt. Ich hatte alles daran gesetzt keine Missverständnisse zu verursachen. Wie konnte ich so unaufmerksam gewesen sein?!
„Ich kann es einfach nicht mehr.“
„Du hast gesagt du wartest auf mich.“, stotterte ich und drohte jederzeit in Tränen auszubrechen.
„Auch ich habe meine Grenzen.“, erwiderte er matt.
Wieso jetzt? Wieso genau dann, wenn ich vor ihm stand?! Ich hatte meinen Weg gefunden, ich hatte wieder eine Vision von einer Zukunft. Ich hatte mit Tay abgeschlossen und ich war hier um Luan genau dies zu sagen. Sag es! Sag es ihm!
Doch ich konnte nicht.
Sein kalter Blick ließ mich zu Eis gefrieren. Ich spürte seine Abneigung. Ich spürte, wie sein Körper sich verkrampfte und er darauf wartete, dass ich endlich ging und ihn allein ließ.
Langsam nickte ich. Ich drehte mich um und verließ Luan’s Zimmer. Ich hielt meine Tränen zurück so gut ich konnte. Ich verabschiedete mich kurz von Mrs. Seon und verließ das Haus auf schnellstem Wege. Draußen lief ich die Straße hinunter. Ich ließ mich auf den Kantstein an der Ecke nieder und schluchzte bitterlich. Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich zog mein Handy aus der Tasche, wählte Inna’s Nummer und wartete.
„Kia?“, sprach sie am anderen Ende der Leitung.
Ich brachte kaum ein Wort hervor. „Kannst du mich abholen?“, weinte ich ins Telefon.
     Kurz darauf saß ich in Inna’s Auto. Noch immer weinte ich. Ich schaffte es nicht einmal Inna zu erklären, was eigentlich geschehen war. Und Inna fragte zum Glück auch nicht nach, sondern ließ mich einfach weinen. 

Ich wollte nicht in die Schule. Ich wollte Luan nicht sehen. Ich würde das nicht aushalten. Ich hatte den kompletten Sonntag damit verbracht verheult in meinem Bett zu liegen. Meine Mutter war mehrere Male besorgt in mein Zimmer gekommen aber ich wollte nicht mit ihr sprechen.
Montagmorgen brachte ich es nicht fertig extra früh in der Schule zu sein. Die Motivation war weg. Ich trottete in die erste Stunde hinein und ließ mich auf meinem Platz nieder. Tay war schon da. Er hatte den Kopf auf den Tisch gelegt. Auch Hana saß auf ihrem Platz. Sie hatte ihr Handy in der Hand, grinste vor sich hin und tippte eifrig in die Tasten.
Ich wäre am liebsten einfach im Boden versunken. Es gab keinen Ort, an dem ich weniger sein wollte.
Aber das Mittagessen war der Höhepunkt, beziehungsweise Tiefpunkt. Ich stand in der Schlange, holte mir eine Portion Reis und einen Pudding. Ich zögerte. Ich wollte nicht zu meinem Tisch gehen. Doch schließlich ging ich doch hin. Chen und Inna saßen bereits turtelnd vor ihrem Essen. Auch Tay war dort, sowie Kien und Luan. Ich gesellte mich schweigend zu ihnen. Natürlich an meinen gewohnten Platz. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Tay schaute von mir zu Luan und zurück. Er wartete auf eine Reaktion von ihm, doch Luan schaufelte ohne sich zu regen weiter seinen Reis in den Mund. Chen und Kien verstanden am wenigsten was vor sich ging, während Inna entgeistert den Kopf schüttelte. Ich warf ihr ein trauriges Lächeln zu. Ich hatte nichts anderes erwartet und ich wollte hier nicht sein.
„Entschuldigt mich.“, durchbrach ich die Stille. Ich ließ mein Tablett stehen und verließ den Tisch. Ich wollte keine seltsame Stimmung zu verantworten haben. Außerdem schnürte mir Luan’s Nähe den Hals zu. Erneut drückten Tränen gegen meine Augen. Doch ich durfte nicht weinen. Ich durfte einfach nicht. 

Jeder Tag verlief von nun an gleich. Ich mied Luan und die anderen weiterhin. Inna hatte Chen die Lage erklärt und leistete mir Gesellschaft. Wir hatten uns in den anderen Saal begeben und saßen dort allein an einem Tisch. So war die Zeit in der Schule wenigstens erträglich.
Ich war immer noch traurig, doch da ich Luan so gut wie nie sah, fing ich langsam an ihn zu vergessen. Die ganze Zeit fühlte sich nach und nach an wie ein langer Traum aus dem ich erwacht war. Alles, was ich erlebt hatte wurde immer und immer irrealer. Manchmal fragte ich mich sogar, ob es wirklich passiert war.
An einem Montag traf ein Brief von der Enderson ein. Ein Hinweis auf die Realität. Ich fing den Brief zum Glück ab, bevor meine Mutter ihn entdeckte. Denn nach wie vor hatte ich ihr davon nichts erzählt. Ich hatte schon beinah gehofft es wäre nicht wirklich passiert.
Ich riss den Brief auf.
Fassungslos starrte ich auf das Papier. Ich war tatsächlich zu einem Vorspielen eingeladen, das schon in einer Woche war.
Ich griff sofort nach meinem Handy und wählte automatisch Luan’s Nummer. Doch schnell genug kam ich wieder zur Besinnung und legte auf, bevor das Freizeichen ertönt war. Niedergeschlagen ließ ich mich auf mein Bett sinken. Ich konnte mich nicht einmal über das Vorspielen freuen, da ich es praktisch mit niemandem teilen konnte.
Inna wollte ich es nicht sagen. Luan wollte nichts von mir wissen. Und Tay würde ich sicherlich nicht anrufen. Auch meiner Mutter wollte ich von meiner Bewerbung noch nichts sagen. Sie würde zuerst geknickt sein, da ich ihr die Zeit über alles vorenthalten hatte. Dann würde sie mich mit Fragen belagern und ich wollte keine davon beantworten. Wenn ich tatsächlich angenommen werden würde, dann würde ich ihr alles erzählen. Dann würde ich mich mit ihr zusammen setzen und ihr in Ruhe erklären, was in meinem Leben so vor sich gegangen war.
Aber erst einmal musste ich nächstes Wochenende irgendwie zum Vorspielen kommen. Nicht nur, dass der Termin extrem kurzfristig war, ich hatte eigentlich niemanden, der mich fahren konnte. Natürlich kam mir als erstes Tay in den Kopf. Aber das ging beim besten Willen nicht. Auch wenn er sicherlich schon darauf wartete, dass ich eine Antwort der Enderson erhielt, ich konnte ihn nicht fragen. Auch, wenn Luan mich zurückgewiesen hatte, ich konnte ihm das nicht antun. Wenn ich jetzt noch einmal etwas mit Tay machte und Luan würde es erfahren - und ich war mir ziemlich sicher, dass Tay dafür sorgen würde, dass er es erfuhr - dann bestätigte ich damit seine Vermutung beziehungsweise Befürchtung. Auch, wenn ich verloren hatte, wenn ich all meine Chancen verspielt hatte, wollte ich Luan nicht noch weiter verletzen. Und so war Tay für mich keine Option. Inna musste also eingeweiht werden.
     Ich nutzte das Mittagessen am Dienstag, um Inna von meinem Vorspielen zu berichten. Wie ich es schon geahnt hatte, war Inna kein Stück sauer. Stattdessen freute sie sich unglaublich für mich und nahm eine unsagbare Last von meinen Schultern. Ich wusste eigentlich selbst nicht wirklich, warum ich Inna in so wenig einweihte. Denn sie war wirklich die beste Freundin, die man sich vorstellen konnte. Ich schwor mir, dass ich es ihr irgendwann einmal zurück zahlen würde. Ich war ihr so einiges schuldig.

„Luan!“, sagte Tay und schritt auf Luan zu, der gerade an seinem Spind stand.
„Wir sind doch Freunde, oder?!“, wollte Tay von ihm wissen.
Luan schaute ihn ausdruckslos an. Ein Gesicht, das Luan momentan andauernd trug und das ihm so überhaupt nicht stand.
„Kannst du mir mal sagen, was dein Problem ist?“, wollte Tay wissen. Denn zwischen ihm und Luan waren die Dinge ganz und gar nicht in Ordnung. Und darunter litt die ganze Band. Luan war abwesend und leicht reizbar. Wann immer man etwas sagte, fasste er es falsch auf, fühlte sich sofort angegriffen und giftete andere an.
„Ich hab kein Problem.“, meinte Luan.
Tay schüttelte etwas genervt den Kopf. „Ist es wegen Kia?“, wollte er wissen. „Was ist da eigentlich zwischen euch los?“, fragte er weiter.
Luan schwieg. Er ignorierte Tay und räumte weiter Bücher in seinen Spind.
„Ist das dein ernst? Du redest nicht einmal mehr mit mir?“
„Wozu sollte ich?“
„Damit ich verstehe, was los ist. Damit die Band wieder funktioniert. Wir ertragen das so nicht mehr.“
„Wir?“, Luan zog die Augenbrauen hoch.
Tay seufzte. „Alle anderen. Wir sind eine Band. Wir sind ‚Legit‘ aber momentan läuft es doch überhaupt nicht.“
„Werft mich doch raus.“, Luan zuckte mit den Schultern.
„Was redest du denn da?“, protestierte Tay.
„Ich hab’ echt keine Lust mit dir zu reden.“, meinte Luan. Er schloss seinen Spind und wollte davonlaufen.
„Nur noch eins.“, meinte Tay. Luan blieb stehen. Er drehte sich langsam um und schaute ihn herausfordernd an.
„Du machst dir wirklich alles kaputt. Erst stößt du das Mädchen von dir, was dich wirklich mag. Welches dir hinterherläuft, sich sorgen macht und die ganze Zeit nur an dich denkt. Die im Auto sitzt und wie eine Blöde auf ihr Handy starrt und auf eine Antwort von dir wartet. Aber du scheinst es nicht einmal für nötig zu halten ihr das kleinste bisschen Aufmerksamkeit zu schenken. Und als wenn das nicht genug ist, benimmst du dich deinen Freunden gegenüber, die dir wirklich gar nichts getan haben, wie ein Vollidiot. Komm von deinem Depritrip runter und sei wieder der Alte.“, fauchte Tay ihn an.

Als ich neben Inna im Auto saß und wir zur Enderson fuhren, redete sie in einer Tour. Beinah wäre mir Tay’s Begleitung lieber gewesen, da er nicht so viel sprach. Aber Inna lenkte mich mit ihrem Geplapper wenigstens ab. Ich hatte die Wochen ein wenig geübt. Ich war mir nicht sicher, was mich beim Vorspielen erwartete. Im Grunde wusste ich es ja von dem Infokurs, aber trotzdem hatte ich einfach keine genaue Vorstellung.
     Wir erreichten die Enderson pünktlich. Und als wäre ich die Alte gewesen, strotzte ich vor Energie und Selbstüberzeugung. Ich hatte keinerlei Zweifel und war sogar kaum nervös. Es war ein schönes Gefühl wieder oben auf zu sein. Ich hatte mein altes Selbstvertrauen zurück. Ich war eine der wenigen Auserwählten, die zum Vorspielen eingeladen wurden. Und mein Lied war genial. Ich war genial.
Ich spielte als gäbe es kein Morgen. Währenddessen hatte Inna es sich im Warteraum in einem der bequemen Sessel gemütlich gemacht und wartete geduldig. Sie hatte es kaum verstehen können, dass ich nicht aufgeregt war. Aber immerhin kannte sie mich so. Ich glaubte irgendwie, dass sie schon befürchtete, ich würde wieder ganz die alte Kia werden und sie links liegen lassen. Das würde allerdings nicht passieren. Denn ich hatte verstanden, was wichtig im Leben war. Erst jetzt ergaben Tay’s Worte einen Sinn. Er hatte mir ins Gesicht geschmettert, dass er froh über meinen Unfall war. Und zum ersten Mal vernahm ich diese Worte ohne bitteren Beigeschmack. Zum ersten Mal war ich selbst froh darüber. Natürlich wäre mein Leben um einiges leichter verlaufen. Ich hätte meine Zeit nicht mit der Reha verschwendet, hätte mich nicht von anderen Leuten ablenken lassen und hätte einen sicheren Platz an der Universität meiner Träume. Was vorher der einzige Weg schien, war nun eine Option in der Vergangenheit, die ich zum aktuellen Zeitpunkt nicht mehr hätte wählen wollen. Ich war froh, dass ich Inna wieder hatte. Ich hatte das Gefühl ich war in den letzten Monaten so viel gereift. Ich hatte mich selbst gefunden. Und diesmal mein wahres Ich. Ich hatte Freunde gefunden und wieder verloren, aber ich war für jede dieser Erfahrungen dankbar. 
Einige Zeit später warteten Inna und ich gespannt auf die Verkündung der Annahmen. Es waren heute rund 40 Schülerinnen und Schüler zum Vorspielen gekommen und nur ungefähr ein Viertel würde einen Platz bekommen.
Ich war eigentlich recht zuversichtlich. Selbst, wenn ich jetzt abgelehnt werden würde, hätte ich in einigen Monaten noch einmal die Chance beim regulären Bewerbungsverfahren mein Bestes zu geben. Die Professoren schienen von meinem Lied recht angetan gewesen zu sein. Ich hatte mein gesamtes Herz in dieses Lied gesteckt. Und obwohl das Lied von Tay begonnen wurde, wurde es für Luan zu Ende geschrieben. All die Emotionen, die aus dem Lied hervorgingen, sie waren für Luan. Aber selbst, wenn er das Lied hören würde, würde er nicht wissen, dass ich die ganze Zeit ihn meinte. Es war immer er. Ich hatte es nur viel zu spät realisiert. Es war nicht er, der mich in meinem Traum bedrängt hatte. Es war Tay. Luan war wie ein Engel, der mir vom Himmel gesandt wurde. Er war alles, was ich mir je wünschen konnte. Umso mehr schmerzte mich noch immer der Verlust. Niemals hätte ich geglaubt, dass ich tatsächlich mal lieben könnte.
     Ein Name nach dem anderen fiel und wurde als Echo von den hohen Decken wiedergegeben. Mein Name war nicht dabei. Es fühlte sich an, als würde in mir drinnen etwas zerbrechen. Kurzzeitig glaubte ich zu ersticken. Gefühle überkamen mich, zogen an mir. Inna hielt tröstend meine Hand, doch ihr Trost war nicht genug, um mich daran festzuhalten. Ich hörte das Lied in meinem Kopf. Doch aus der lieblichen Melodie wurden kratzige Töne. Ich hielt mir die Ohren zu, um den imaginären Lärm auszublenden. Ich hatte nicht damit gerechnet schon wieder Ablehnung zu erfahren. Ich war fest davon ausgegangen heute meine Zukunft zu sichern. Stattdessen stand ich immer noch vor dem Nichts. Ich stand vor einem leeren Weg, der ins dunkle und unheimliche Nichts führte. 

Einen Monat später

Ich war müde. Extrem müde. Ich quälte mich aus meinem Bett. Langsam ging ich die Treppe hinunter, begab mich in die Küche und machte mir erst einmal Frühstück. Irgendwann klingelte es an der Tür. Inna kam hinein. Sie trug einen dicken Mantel und eine Mütze. Ihr kurzes Haar lugte nur knapp daraus hervor.
„Ich habe sowas von keine Lust.“, meckerte sie.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht.“
Wir fuhren zur Schule. Es war mittlerweile so kalt geworden, dass die Straßen zugefroren waren und Inna musste ziemlich vorsichtig fahren, da die eine oder andere Stelle sehr rutschig war.
Ich ging durch die vollgestopften Schulflure zu meinem Spind. Als ich ihn beinah erreicht hatte, blieb ich wie angewurzelt stehen. Luan stand vor Tay’s Spind. Die beiden unterhielten sich, lachten und Tay wuschelte Luan durch die blonden Locken. Die eisige Stimmung, die zwischen den beiden geherrscht hatte, schien wie verflogen zu sein. Es es war das erste Mal seit ein paar Wochen, dass ich die beiden zusammen sah. Beim Mittagessen vermied ich jeglichen Blick in Richtung des Tisches, an dem die Jungs saßen und Inna hatte ich ein striktes Redeverbot erteilt. Ich hätte gedacht, dass ich inzwischen besser mit der Situation umgehen konnte. Doch Luan zu sehen, glücklich und lachend, versetzte mir einen Stich ins Herz. Ich war unfähig mich zu bewegen.
Im nächsten Moment fing Tay meinen Blick. Er lächelte mich an und deutete dann mit dem Kopf in meine Richtung, während er etwas zu Luan sagte. Dieser drehte sich daraufhin zu mir um. Sein Lachen erstarb.
Ich wollte so schnell wie möglich flüchten. Ich riss mich zusammen und ging einfach weiter. Ich konnte schließlich nicht ewig im Flur umherstehen.
Luan und Tay wechselten noch einige Worte. Dann kam Luan auf mich zu.
Mein Herz pochte und sprang wie ein Flummi hoch und runter. Mir wurde heiß, meine Finger kribbelten, mir wurde schwindelig. Ich richtete den Blick auf den Boden und wollte einfach nur zu meinem Spind gelangen.
„Hey.“, sagte Luan.
Ich versuchte mit zitternden Händen meinen Schrank zu öffnen.

„Hi.“, erwiderte ich mir unsicherer Stimme.
„Wie ist es bei der Enderson gelaufen?“, fragte er.
Sprachlos starrte ich ihn an.
Wir schwiegen.
Seine dunklen Augen ruhten auf mir. Seine weiche Haut schimmerte in goldenen Tönen und seine Locken reflektierten das kühle Licht der Deckenlampen. Es fiel mir schwer auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Alle Erinnerungen strömten langsam wieder in meinen Kopf. Ich erinnerte mich an meinen ersten Tag, wie ich Luan über die Tische hinweg beobachtet hatte und Inna mir von ‚Legit‘ erzählt hatte. Es war der gleiche Tag gewesen, an dem ich mit ihm vor dem Bandraum zusammen geprallt war. Ich hatte Bilder von unserem Treffen am See im Kopf. Es war doch im Nachhinein unfassbar, wie schnell ich Vertrauen zu ihm aufgebaut hatte und wie viel er mir anvertraut hatte. Es war alles so herrlich unkompliziert gewesen. Ich hatte nicht einen Gedanken daran verschwenden müssen, wie mein Handeln vielleicht auf ihn wirken konnte. Ich musste mich nicht verstellen, ich konnte einfach ich sein.
Es war dieser Blick, mit dem er mich auch jetzt ansah. Ein Blick, der mir sagte, dass alles wieder in Ordnung werden würde. Ein so unschuldiger, beinah schon naiver und liebevoller Blick, der mich nicht nur jetzt ins Schwärmen brachte. Am liebsten hätte ich mich sofort an ihn gedrückt. Ich vermisste seine Nähe und seinen Duft mehr denn je. Obwohl er mir direkt gegenüber stand, fühlte es sich an, als sei er meilenweit entfernt.
„Lief nicht so besonders.“, brachte ich schließlich hervor.
„Oh!“, sagte Luan überrascht. Dann schaute er auf den Boden. Nervös fuhr er sich mit den Händen durchs Haar. Das war zu viel für mich. Ich hielt das nicht mehr aus. Ich wollte davonrennen. So weit weg wie nur irgend möglich.
„Vielleicht war es einfach das falsche Lied.“, meinte er. Ich wusste nicht genau worauf er hinaus wollte, aber ich fühlte mich zunehmend unwohl.
Ich schüttelte den Kopf.
„Tay hat mir das Lied vorgespielt.“, meinte er dann. Er sah mich durchdringend an und wartete auf eine Reaktion von mir. Doch ich regte mich nicht.
„Es ist wirklich schön. Ich wusste ja, dass du Emotionen beim Spielen gut übertragen kannst, aber ich hätte dir echt nicht zugetraut, dass du sie auch derartig erschaffen kannst.“, redete er weiter.
Ich wusste nicht, was ich entgegen sollte.
Die Schulglocke durchbrach unser angespanntes Gespräch, dessen Sinn ich bis jetzt noch nicht verstanden hatte.
„Naja, egal. Das war eigentlich schon alles, was ich dir sagen wollte.“, meinte Luan mit einem Seufzen. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und drehte sich um.
„Luan?“, hielt ich ihn auf.
Jetzt oder nie.
„Du warst gemeint.“, sagte ich und versuchte den Kloß in meinem Hals zu ignorieren.
„Es warst immer du!“
Luan sah mich schweigend und etwas verwundert an.
„Das war eigentlich schon alles, was ich dir sagen wollte.“, zitierte ich ihn. Ich lächelte ihn traurig an und ließ ihn im Gang stehen.


- Ende - 


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