Donnerstag, 5. Februar 2015

Piano Girl - Im Herzen spielt die Musik - KAPITEL 4

Es war an einem Donnerstag. Ich saß im Übungsraum vor einem der elektrischen Keyboards und hatte gerade den Teil des Liedes fertig gespielt, den Tay schon geschrieben hatte. Nicht fehlerfrei. Aber bis dahin wäre es wohl noch ein langer Weg. Noch immer hatte ich das Gefühl nicht atmen zu können, sobald ich eine der Tasten hinunter drückte.
Die ganze letzte Woche war ich in den Übungsraum gekommen und hatte stumm das Lied gespielt, bis ich mich endlich getraut hatte das Keyboard einzuschalten. Ich hatte kein einziges Lied gespielt, was ich damals kannte. Ich hatte zu viel Angst zu versagen. Es war schlimm genug, dass ich so ein recht einfaches Stück, wie das von Tay, nicht sofort fehlerfrei beherrschte, sondern immer an den unterschiedlichsten Stellen rauskam, die falsche Note spielte oder nicht so schnell hinterherkam.
Ich schaute vom Keyboard auf, wischte meine schweißnassen Hände in meiner Hose ab und da bemerkte ich ihn aus dem Augenwinkel.
Langsam drehte ich den Kopf in Richtung Tür. Er stand dort, schaute mich durch das Glas hindurch an. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Haare wirr in der Stirn. Seine Augen glänzten und ein verschmitztes und zufriedenes Lächeln hatte sich auf seine Lippen geschlichen.
Regungslos starrte ich ihn an. Mein Herz machte einen Satz. Ich war unfähig zu reagieren. Sollte ich aufstehen? Sollte ich zu ihm gehen? Würde er hereinkommen?
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und konzentrierte mich darauf gleichmäßig zu atmen.
Es war nur Tay, ermahnte ich mich. Er war immer derjenige gewesen, der mich hatte spielen hören. Ich hatte keine Angst vor ihm zu versagen. Oder doch? Mittlerweile hatte sich so einiges verändert und damit war auch der Drang in mir entstanden Tay zu beweisen, dass ich noch spielen konnte. Wenn ich es schon nicht mir selbst beweisen konnte, dann doch zumindest ihm.
Die Schulglocke war in diesem Moment meine Erlösung. Tay drehte sich wortlos vom Fenster ab und schlenderte los zu seiner ersten Stunde. Die er mit mir hatte. Ich schüttelte den Kopf, versuchte meine rasenden Gedanken zu fangen, packte meine Notenblätter zusammen und verließ den Übungsraum. Eine Sekunde hatte ich befürchtet, Tay würde hinter der nächsten Ecke auf mich warten. Doch er war nicht mehr zu sehen.
Es war nur Tay, es war nur Tay, predigte ich immer wieder in meinem Kopf. Er wollte, dass ich spiele und er hatte mich dabei ertappt, wie ich heimlich übte. Wo wäre das Problem?! Er wusste sicher ganz genau, warum ich nicht zuhause spielte. Und er würde auch wissen, warum ich mich nach unserer letzten Auseinandersetzung nicht im Baumhaus würde blicken lassen. Ich atmete tief durch. Ich beschloss die Gedanken von mir zu schütteln und einfach so zu tun, als wäre nichts gewesen. Und das schien auch Tay für sich entschieden zu haben.
    Der Unterricht konnte nicht langsam genug enden. Zwar ignorierte mich Tay seit der Sekunde, in der ich das Klassenzimmer betreten hatte, doch irgendetwas störte mich dennoch daran. Mich nervte Hana, die unaufhörlich kleine Zettelchen durch die Reihen wandern ließ. Tay öffnete die Zettel, las sie und warf sie achtlos auf den Tisch. Manchmal lachte er und manchmal schüttelte er belustigt den Kopf. Doch nie schrieb er einen Zettel zurück.
Als die Stunde zu ende war, bekam ich mit, wie Hana sofort nach vorn zu Tay’s Tisch eilte und sich darauf mit ihrem kleinen Hintern niederließ. Tay lächelte sie freundlich an, doch ich bildete mir ein, eine genervte Nuance darunter zu erkennen. Ich bemerkte viel zu spät, dass nur noch wir drei im Klassenzimmer waren. Hektisch kramte ich meine Sachen zusammen und wollte auf dem schnellsten Weg in den belebten Flur flüchten.
„Also wegen heute Abend…“, war das letzte was ich hörte. Hana trällerte in ihrer zuckersüßen Stimme und grinste Tay an. Ich fragte mich unwillkürlich ob Hana wohl eine gute Sängerin war. Ihre Stimme ließ dies vermuten. Hatten Hana und Tay heute ein Date?! Ich hasste mich selbst dafür, dass ich mich so sehr für derart belanglose Dinge interessierte und im gleichen Moment fragte ich mich, wann es nicht mehr belanglos geworden war.
Verwirrt eilte und ich durch die Gänge zu meinem Spind. Ich war so in Gedanken verloren, dass ich gar nicht bemerkte, dass der Platz vor meinem Spind schon besetzt war. Ich rannte geradewegs in Luan hinein. Er hob abwehrend die Hände.
„Hey, hey, nicht so stürmisch.“, lachte er.
„Tschuldigung.“, murmelte ich.
Er trat einen Schritt zur Seite, sodass ich meine Hefte in den Schrank räumen konnte.
„Mal wieder ganz schön durch den Wind, hm?!“, bemerkte er.
Ich schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. Seine blonden Locken hingen ihm Kraus ins Gesicht und seine warmen Augen strahlten mich vertraut an. Das Licht im Gang ließ seine blasse Haut goldener denn je erscheinen.

Nach der Schule wartete ich wie schon oft vor dem Schulgebäude auf Luan. Ich vermied es größtenteils nachhause zu gehen, da ich befürchtete mit meiner Mutter weitere Diskussionen führen zu müssen. Ich wollte nicht, dass sie wusste, dass ich wieder spielte, aber genauso wenig wollte ich sie anlügen. Es war um einiges einfacher ihr zu erzählen, ich wäre bei einem Freund, der in der gleichen Gegend wohnte. Und ich hatte sogar das Gefühl sie freute sich für mich. Zwar erklärte ich ihr immer wieder, dass es nicht diese Art von Freund war, doch das schien ihr Kopf einfach zu ignorieren.
    Luan’s Zimmer war mittlerweile wie ein zweites Zuhause für mich. Seine Mutter hatte immer das beste Essen gekocht, sobald wir aus der Schule kamen. Einen Komfort, den Luan vor meiner Anwesenheit nicht genießen durfte, erklärte er mir. Da meine Mutter zwar immer ihr bestes tat um mich zu bekochen, dies aber meist bei einem ‚es war ja gut gemeint‘ blieb, freute ich mich umso mehr auf die warmen Mahlzeiten aus leckerem Reis und den verschiedensten Beilagen. Besonders gut schmeckte mir Mrs. Seon’s Gyeran Mali. Generell liebte ich alles, was Eier beinhaltete, aber von den weichen Eirollen konnte ich gar nicht genug bekommen.
Und so schlang ich auch an diesem Tag eine große Portion der Leckereien hinunter und fand mich mit kugelrundem Bauch auf Luan’s Bett wieder.
„Wenn deine Mutter so weiter kocht, brauche ich bald einen Abnehmcoach.“, sagte ich vollgestopft.
Luan lächelte. Er hatte sich seine Gitarre geschnappt, saß auf dem Boden und zupfte an einigen Saiten herum.
„Ich glaub ich kann bald nicht mehr herkommen.“, lachte ich.
„Ich warne dich. So gut gegessen habe ich noch nie!“, ermahnte er mich witzelnd.
Ich drehte mich auf die Seite, meinen Kopf auf meinen Arm gestützt und musterte Luan. Sein blondes Haar war von einem dunklen Ansatz gesäumt, der wunderbar den Ton seiner dunklen Augen aufgriff. Seine Haut war zwar blass, doch keineswegs fahl oder krank. Seine Arme ragten aus einem weißten Shirt heraus. Kaum merklich zuckten die Muskeln sobald er einen neuen Akkord griff. Seine schlanken Finger schlangen sich elegant um den Hals der Gitarre und fuhren auf den Saiten entlang. Es hatte etwas so beruhigendes Luan zuzusehen. In diesem Moment vergaß ich alles um mich herum. Als wäre ich in einer anderen Welt. Dort gab es keinen Unfall, keine geplatzten Träume, keine Zukunftssorgen. Es war eine Utopie, in die ich mich so gern flüchtete. Ich wollte jede Sekunde meines Lebens in der Wärme seines Hauses verbringen, dem leisen Klang der Gitarre lauschen und im Land der Träume versinken.
„Kia?“, durchbrach Luan’s Stimme meine Gedanken.
„Hm?“, fragte ich überrascht. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er mit mir gesprochen hatte.
„Wie immer in deiner eigenen Welt.“, grinste er mich an.
Ich grinste zurück.
„Ich wollte wissen, ob du schon ein Thema für deine Abschlusspräsentation hast.“, wiederholte er seine Frage.
Missmutig verzog ich den Mund.
„Ich hatte ja daran gedacht über den Verlust der Musik als Kunst zu schreiben. Du weißt schon wegen der Masse und der Technik und so.“, erklärte er und gestikulierte mit den Händen herum.
„Klingt doch gut.“, meinte ich. Ich wollte mich nicht damit befassen. Ich hatte mir noch nicht wirklich überlegt, was ich mit meinem Leben nach der Schule machen sollte. So hatte ich auch die Abschlussprüfung der 11. Klasse vor mir her geschoben. Ich hatte noch alle Zeit der Welt, das Jahr hatte gerade erst angefangen, aber vielleicht sollte ich nicht jetzt schon damit anfangen alles auf die leichte Schulter zu nehmen.
Ich spielte Tay’s Lied jetzt schon zum gefühlten hundertsten Mal. Und noch immer wollten meine Finger nicht so, wie ich es wollte. Es war zum Haareraufen. Ich hatte zwar inzwischen keine Angst mehr Schmerzen zu haben, aber es machte mich wahnsinnig, dass meine Motorik dermaßen geschädigt war. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass es so etwas überhaupt gab. Dass man nicht in der Lage sein könnte, seine Finger so zu bewegen, wie man es wollte. Dass es ein Tempo gab, das ich nicht mehr einhalten konnte. Ich wollte eine Sekunde lang Tay die Schuld geben, weil er eine Notenfolge geschaffen hatte, die ich nicht spielen konnte. Doch schnell genug schob ich die Gedanken von mir. Ich schüttelte genervt den Kopf und startete von vorn. Das Metronom tickte unaufhörlich. Es verfolgte mich wohin ich ging und auch abends im Bett hatte ich das Gefühl das Metronom noch ticken zu hören. Tick, tick, tick tick.
Meine Finger huschten über die Tasten, folgten den schwarzen Punkten auf dem Papier vor mir und brachten wunderschöne, melodische Töne zum Klingen. Obwohl ich das Lied auf und ab klimperte war es nie langweilig geworden. Ich hätte mir das Lied den ganzen Tag anhören können - wäre da nicht dieses vernichtende Gefühl des Versagens, was mich stetig begleitete.
Ich beendete das Lied.
Ich brauchte eine Sekunde um zu realisieren, dass ich das Stück gerade fehlerfrei gespielt hatte. Tick, tick, tick, tick.
Ich schaute ungläubig auf meine Finger. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich unbewusst das Lied gespielt hatte. Ich fühlte mich in diesem Moment so unglaublich befreit. Es war ein so ungewohntes Gefühl. Ich hätte heulen können. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich war überwältigt. Meine Finger begannen zu zittern und mein ganzer Körper kribbelte unter der ansteigenden Freude.
Ich erfuhr eine ganz neue Art von Antrieb. Das Gefühl, alles schaffen zu können, wenn ich es nur wollte war zurück gekehrt. Die Utopie war in die Realität gedrungen. Meine Lippen weiteten sich zu einem fröhlichen Lächeln, das mich erst wieder verließ, als ich das Klassenzimmer zur ersten Stunde betrat.
Hana hatte sich bei Tay eingenistet und die beiden schienen ziemlich in ihre Unterhaltung vertieft. Ich hatte ganz vergessen, dass die zwei sich anscheinend gestern verabredet hatten. Meine Laune sank auf den Tiefpunkt. Ich wollte Hana hassen, hätte ich mir nicht fest vorgenommen niemandem so viel Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Sie war eine erbärmliche Gestalt, die sich so offensichtlich an Tay ranschmiss, dass es sogar ein Blinder sehen würde. Und nein, da sprach nicht nur die Eifersucht aus mir. Tay war für mich abgehakt, auch wenn das nervige Kribbeln in meinem Bauch, wann immer ich ihn sah, mich vom Gegenteil überzeugen wollte. Ich ließ mich gereizt auf meinen Stuhl fallen und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. Ich wollte diese Turteleien nicht mehr mit ansehen. 
    Am schlimmsten an diesem Tag war das Mittagessen. Inna war krank. Nichts Ernstes, nur eine Erkältung. Aber dies hatte ihr einige schulfreie Tage eingebracht. Ich holte mir mein Essen und ließ mich auf meinen gewohnten Platz nieder. Ich fühlte mich etwas verloren, auch wenn es mir im Grunde nicht allzu viel ausmachte, allein zu essen. Einige Schüler warfen mir seltsame Blicke zu, doch ich versuchte sie größtenteils zu ignorieren.
„Kia!“, hörte ich Luan’s Stimme hinter mir.
Als ich mich umdrehte blickte ich in die Gesichter vierer Jungen, die ich sofort als ‚Legit‘ ausmachte.
„Dürfen wir uns setzen?“, fragte Luan und grinste mich an.
Überrumpelt stammelte ich irgendetwas Unverständliches, woraufhin die Vier sich um den Tisch herum schoben und sich hinsetzten.
„Also, Kia…“, begann Kris. Er hatte seidig glattes, rot-braunes Haar, das seine Ohren freilegte, an dessen Läppchen zwei silberne Stecker prangten.
Abwartend schaute ich ihn an. Ich fühlte mich ein wenig unwohl und versuchte verlegen zu Lächeln, was mir nicht so unbedingt gelang.
„Du bist jetzt die Freundin von unserem Kleinsten?“, wollte er wissen. Er grinste schief und ich wusste, dass es eine Neckerei sein sollte.
„Klar! Wir sind unzertrennlich. Wir haben auch schon das Hochzeitsdatum ausgemacht, ich hoffe es ist in Ordnung, dass wir euch das jetzt so kurzfristig mitteilen. Ihr kommt doch alle?!“, meinte ich.
Kris, Chen und Kien brachen in schallendes Gelächter aus.
„High Five.“, meinte Kris, der mir gegenüber saß, und reckte seine Hand in die Luft. Ich amüsierte mich über die Freude der Jungs und schlug kopfschüttelnd ein. Nur Luan schien nicht so richtig Spaß an der Situation zu finden. Er lächelte matt, schaute auf die Tischplatte und ich konnte sehen, dass er leicht errötete.
„Schlagfertig, das muss man dir lassen.“, lachte Chen.
Ich grinste die drei an. Ich stupste Luan, der neben mir saß mit dem Ellenbogen an, woraufhin er sich verlegen die Haare aus der Stirn strich.
Im nächsten Moment fiel mir auf, was an dieser Situation so komisch war. Nicht etwa, dass ich mit den 4 beliebtesten Jungs der Schule an einem Tisch saß. Auch nicht, dass mich mal wieder alle Blicke durchbohrten. Sondern die Tatsache, dass es vier Jungs waren, die zu einer fünf-köpfigen Band gehörten. Einer fehlte. Und das war Tay.
Sofort schaute ich mich in der Cafeteria um. Doch der Saal war so vollgestopft mit schmatzenden Schülern, dass es wahrscheinlich unmöglich war, irgendjemanden in diesem Gemenge auszumachen.
Chen fing meinen Blick auf und folgte ihm suchend.
„Suchen wir jemanden bestimmten?“, fragte er.
„Hm?“, fragte ich überrascht. Ich lächelte ertappt und schüttelte den Kopf.  
„Also heute Abend mal wieder eine Jamsession?“, wollte Chen wissen und trommelte mit den Sticks auf der Tischplatte herum.
Kien, Kris und Luan nickten einheitlich, während sie auf ihrem Essen herumkauten.
„Deine Freundin kann ja auch kommen.“, grinste er und zeigte mit dem Drumstick auf mich. Er hielt ihn so dicht vor meine Nase, dass ich schielen musste, um ihn zu fokussieren.
„Nichts da. Keine Mädchen erlaubt!“, meinte Kien. „Nichts für Ungut.“, fügte er hinzu.
Ich hob abwehrend die Hände.
„Kien hat Recht. Wenn wir Hana nicht erlauben zu kommen, können wir für Kia keine Ausnahme machen.“, meinte Kris.
„Jaja, ist ja gut.“, meinte Chen einlenkend und ließ enttäuscht die Schultern hängen. 
Noch ein Freitagabend, den ich allein zuhause verbrachte.
Meine Mutter hatte mir einige Tüten Süßkram besorgt, die ich genüsslich in mich hinein futterte. Ich hatte mich in meine Lieblingsdecke auf mein Bett gekuschelt und meine DVD Box der Serie „The Greatest Love“ eingelegt. So konnte ich stundenlang die Zeit vergessen.
Wäre da nicht dieser blöde Kratzer auf CD 4. Genervt holte ich die CD aus dem Fach und begutachtete den tiefen Schlitz, der sich fast über das gesamte Stück erstreckte. Ich seufzte und ließ mich auf mein Bett fallen. Ich starrte an die Decke und lauschte dem elektronischen Rauschen des Fernsehers.
Anscheinend war da etwas zwischen Tay und Hana. Ich fragte mich, was sie wohl gerade machte, wenn Tay auch bei dieser Jamsession sein würde. Sie würde wahrscheinlich nicht allein in ihrem Zimmer hocken. So sehr man sie ja auch verurteilen wollte, man konnte es nicht. Hana hatte ihr Leben in die Hand genommen. Sie hatte sich zu dem gemacht, was sie sein wollte. Im Grunde war sie beneidenswert.
Ich stöhnte genervt und vergrub meinen Kopf in den Kissen.
Ich versuchte Tay und Hana aus meinen Gedanken zu verbannen. Ich sah sie vor mir, wie sie sich ihr blondiertes Haar über die Schulter warf und den Blick auf ihren Hals freigab, um den eine winzige goldene Kette baumelte, dessen Anhänger ein Musikschlüssel war. Ihr perfektes und ebenmäßiges Gesicht, strahlte mehr denn je. Ihre sonst so kleinen Augen waren mit Eyeliner betont, sodass sie beinah schon verführerisch aussah. Sie wankte mit ihren spindeldürren Beinen in hohen Schuhen auf Tay zu. Trotz der Absätze war sie noch immer ein ganzes Stück kleiner als er.
Ich konnte Tay’s Blick nicht deuten. Früher war es eine Leichtigkeit gewesen zu wissen, was er gerade dachte. Wir standen uns so nah, dass wir oftmals wie auf telepathischem Wege zu kommunizieren schienen. Doch jetzt schaute ich in das Gesicht eines anderen Tays. Er war nicht mehr mein Tay. Ich wollte zu gern wissen, was er von Hana hielt. Allzu angetan schien er nicht zu sein, aber vielleicht lag das auch nur an dieser generellen abweisenden Art, die er seit seiner Verwandlung an den Tag legte. Er war seltsam unnahbar, seine Aura hielt mich auf Abstand. Hana aber preschte einfach drauf los und er hielt sie nicht gerade davon ab.
Ich setzte mich in meinem Bett auf. So ging das nicht weiter. Ich konnte nicht meinen Abend damit verbringen, mir den Kopf über Hana und Tay zu zermartern. Wann in diesem Leben wurde Hana zu meiner Konkurrentin. Und wann hatte ich überhaupt beschlossen dem Kribbeln nachzugeben und einzusehen, was ich offensichtlich für Tay empfand. 

Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich mich tatsächlich mal auf die Schule freuen würde. Ich konnte den Montag kaum erwarten. Ich wollte endlich zuhause raus und wieder zurück in meine gewohnte Routine aus Unterricht und Luan.
    Obwohl ich Montagmorgen total müde war, quälte ich mich aus dem Bett, um wieder früher in der Schule zu sein.
Anfangs hatte ich mich noch bemüht besonders leise zu sein, um meine Mutter nicht zu stören. Doch seit sich ihre Morgenroutine meiner angepasst hatte, machte ich den Wasserkocher an und füllte mir Kaffee in meinen Thermosbecher. Ich radelte zur Schule. Beinah wären mir die Augen wieder zugefallen.
Ich betrachtete das Klavier. Ich hatte das Lied bereits auf dem Keyboard gespielt. Der nächste Schritt war nun das Klavier. Zwar war die aufschäumende Freude der letzten Woche verschwunden, doch durchflutete mich eine neue Art von Motivation.
Ich strich über das glatte Holz. Es war als würde die Berührung Erinnerungen in mir auslösen. Stunden über Stunden hatte ich gespielt und gespielt. Ich hatte mich monatelang auf die Prüfung an der Universität vorbereitet. Keinen Tag hatte ich versäumt. Alles hatte ich hinten angestellt. Nur die Prüfung zählte. Im Nachhinein konnte ich nicht mehr sagen, ob dies zu jenem Zeitpunkt die richtige Entscheidung gewesen war.
Sicherlich hatte ich keine Sekunde damit verschwendet daran zu denken, wie es Inna damit ging. Ich hatte keine Zeit für sie gehabt. Ich hatte sie kaum gesehen, kaum mit ihr gesprochen und wenn wir tatsächlich mal ein Wort wechselten, dann nur, weil ich ihr von meinen Fortschritten berichtete. Ich hatte mich immer in den Mittelpunkt gestellt. Das war falsch gewesen und ich verstand auch nicht, warum Inna immer noch meine Freundin war. Ich hatte ihr nie zugehört und sie bei rein gar nichts unterstützt.
Allerdings fand ich, konnte man auch nicht behaupten, dass alles hätte anders laufen müssen. Schließlich musste man an die Zukunft denken und hätte ich nicht so viel Herzblut und Zeit ins Spielen investiert, wer weiß, ob ich überhaupt durch die Prüfung gekommen wäre. Vielleicht wäre ich nicht gut genug gewesen, vielleicht hätte die Enderson mich abgelehnt. Dass es zu einem späteren Zeitpunkt egal gewesen wäre, konnte ja niemand ahnen.
Ich ließ mich schließlich auf den Hocker des Klaviers fallen. Ich krallte mich am weichen Samtpolster fest. Einatmen. Ausatmen.
Tick, tick, tick, tick, machte das Metronom. Ich sammelte meinen Mut zusammen, sog tief die warme Luft ein und positionierte meine Finger auf den Tasten. Ein letzten Mal schaute ich mir die Noten von Anfang bis Ende an. Noch einmal hörte ich die Melodie in meinem Kopf. Dann begann ich zu spielen.
Musik erfüllte den Raum, drängte sich in jede Ecke und jeden Winkel und brachte alles zum vibrieren. Ich schloss die Augen, blendete das Ticken des Metronoms aus und ließ mich in die Töne fallen. Ich sank tiefer und tiefer hinein in das Becken der Musik, ertrank in einem Schwall aus Noten und kletterte Tonleitern rauf und runter.
Es fühlte sich an, als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich das letzte Jahr ohne diesen atemberaubende Gefühl gelebt hatte. Die Angst und die Zweifel waren wie weggewischt. Das Klavier und ich, wir waren eins. Wir waren unzertrennlich, was für Hürden man uns auch in den Weg legen würde. Wir gehörten zusammen. 

Erst am Mittwoch war Inna wieder zurück in der Schule. Sie sah immer noch ziemlich kränklich aus, versicherte mir aber, dass es ihr gut ginge.
Ich war heilfroh, dass sie mich nicht fragte, warum ich weder mit ihr zur Schule fuhr, noch mich von ihr nachhause bringen ließ. Das war etwas, dass ich schon immer an Inna mochte. Sie stellte keine blöden Fragen und wusste genau, wenn ich ihr etwas nicht sagen wollte. Sie war dann nicht beleidigt oder eingeschnappt. Sie respektierte meine Verschlossenheit und im Gegenzug verriet ich ihr so viel, wie mir möglich war.
Wir saßen an unseren gewohnten Plätzen, da kreuzte ‚Legit‘ auf. Tay ausgeschlossen. Ich hatte die ganze Woche mit ihnen die Mittagspause verbracht, allerdings hatte ich angenommen, dass sich das erledigt hätte, sobald Inna wieder da sein würde. Allen Anschein nach hatte ich mich geirrt.
„Du musst Inna sein.“, meinte Chen und ließ sich neben meine beste Freundin sinken. Inna staunte nicht schlecht. Verwirrt schaute sie von Chen zu mir und verfolgte das Geschehen um sich herum.
„Du warst zu lange nicht da, irgendwie musste ich dich ja ersetzen.“, meinte ich und zuckte mit den Schultern.
Ich war mir nicht sicher, ob Inna meinen Witz verstand, aber sie war gerade ohnehin viel zu abgelenkt von den hübschen Jungs, die ihre Plätze um sie herum einnahmen. Luan wie gewohnt an meiner Seite.
„Hier.“, meinte er und schob mir ein Notenheft zu. Es hatte einen ledernen Einband und Luan hatte eine Schleife darum gewickelt.
Fragend blickte ich ihn an.
„Es gehörte meinem Bruder.“, meinte er.
Ich schaute kurz zu den anderen, doch niemand schien uns zu beachten, so vertieft waren sie in ihr Gespräch.
„Das kann ich nicht annehmen.“, meinte ich und schob das Heft zu ihm hinüber.
Luan legte seine Hand auf meine und schaute mich durchdringend an.
„Doch, das kannst du.“, beteuerte er. Sein Blick war ernst. „Ich habe das Heft schon so lange und wusste nicht so recht, was ich damit anfangen sollte. Aber seit ich dich kenne, weiß ich wer es haben sollte.“
„Aber wieso?“, wollte ich wissen.
„Mach es auf.“
Zögernd zog ich an der Schleife und klappte die erste Seite des Heftes auf.
„Kai hat viel komponiert. Er hat bestehende Lieder genommen, sie umgeschrieben oder zusammengeschrieben.“, meinte er.
Ich schaute ihn an. Etwas zufriedenes lag in seinem Blick.
„Ich spiele ja kein Klavier und so richtig übertragen lassen sich die Noten nicht. Zumindest nicht, dass etwas Vernünftiges bei herauskommt.“
„Wieso gibst du das Heft nicht Tay?“, fragte ich. „Oder Kien?“, fügte ich schnell hinzu.
Jetzt war es Luan, der sich vergewisserte, dass uns niemand zuhörte.
„Für meinen Bruder war dieses Notenheft der Halt in der Realität und zugleich seine Zuflucht in die Fantasie. Ich glaube du verstehst am Besten, wie viel Kai das Heft wert war.“, Luan hatte den Blick auf die Tischplatte geheftet. Es fiel ihm immer noch schwer über seinen verstorbenen Bruder zu sprechen.
„Was ist das?“, rief Inna und fischte mir das Heft aus den Händen.
Luan und ich fuhren vor Schreck zusammen.
„Inna!“, japste ich.
Sie hielt einen Moment inne. Wir wechselten einen Blick. Luan hatte die Luft angehalten und starrte Inna an. Wie in Zeitlupe gab sie mir das Heft zurück. Sie hatte meinen Blick richtig verstanden. Ich nickte ihr zu.
„Was sollte das denn alles?“, fragte Chen und pikste Inna in die Rippen, die daraufhin laut quiekte. 

Luan hatte heute Bandprobe und so machte ich mich ausnahmsweise in Inna’s Auto auf den Rückweg. Ich wimmelte sie vor meinem Haus ab, eilte die Treppen hinauf und setzte mich mit Kai’s Notenheft auf die Fensterbank.
Ich studierte jede Seite genau. Las die kleinen Anmerkungen. Anfangs hatte ich das Gefühl ich würde seine Privatsphäre verletzen. Es fühlte sich so persönlich an und so intim. Ich bekam nach und nach den Eindruck Kai zu kennen. Ich glaubte zu wissen, was er dachte, wenn er die Lieder schrieb und ich glaubte zu wissen, wie sehr er sich an diesen Anker klammerte. Vielleicht bildete ich mir auch nur ein, dass seine Verschmelzungen von mehreren Liedern wie Hilferufe klangen. Schweigende Hilferufe mit Tinte zu Papier gebracht.
‚Nur das geschriebene Wort hält ewig‘, hatte Kai auf eine der Seiten geschrieben.
Ich war da zwar nicht unbedingt seiner Meinung, aber der Gedanke dahinter war klar. Ich wünschte mir, meine Mutter wäre nicht da gewesen. Dann hätte ich mich unten an den Flügel setzen können und Kai’s Lieder gespielt. Aber so blieben die Lieder nur ein Stück in meiner Fantasie - zumindest solange, bis sich die Sonne erneut ihren Weg hoch zum Himmel bahnen würde.
Er stand mir so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte. Seine Nähe brachte meinen Körper zum Vibrieren. Sein Blick lag auf meinem. Seine dunklen Augen schienen mich zu fixieren. Es fühlte sich an, als würden sich zwei Nadeln in meine schwarzen Pupillen bohren. Ich blinzelte, doch schaffte es nicht, den Blick abzuwenden.
Seine eisigen Pranken umschlossen mein Gesicht. Seine Hände waren so kalt, dass meine Haut darunter brannte. Meine Wangen wurden taub und gleichzeitig zog ein stechender Schmerz durch meine Schläfen, der mich zu lähmen drohte. Kleine Lichtblitze glimmten vor meinen Augen auf. Mir wurde schummrig und ich kämpfte dagegen an, jeden Augenblick die Besinnung zu verlieren. 
Er drängte seinen Körper näher an mich heran. Ich wollte zurückweichen, doch er hielt mich fest in seinem Griff und ich war regungslos. Mein Atem wurde flacher, langsam begann mein Körper unangenehm zu kribbeln, als würde alles einschlafen. Ich schluckte heftig. Es fühlte sich an, als bekäme ich keine Luft. Panik breitete sich in mir aus. 
Ein leises Lächeln huschte über seine Lippen. Ein liebevolles Lächeln, das so gleich zu Eis gefror und erstarb. Seine Augen glänzten nicht. Mattes schwarz blickte mir starr entgegen.
Er beugte sich zu mir hinunter. Ich ballte die Hände zu Fäusten. Dann traf sein Mund auf meinen. Ich wollte schreien, doch meine Luftröhre war wie zugeschnürt. Er ummantelte meine Lippen mit den seinen und zwang mich beinah seinen Kuss zu erwidern. Ich schmeckte Blut, das mir langsam die Kehle hinunter lief. Ich hustete und prustete, bis er endlich von mir abließ. Er biss die Zähne zusammen und stierte mich an. Ein undeutlicher Blick, der eine Mischung aus Verachtung und Zufriedenheit ausstrahlte. 
Schließlich gab mein Körper der annähernden Schwärze nach und ich fiel…

Ich schnappte nach Luft und fuhr kerzengerade nach oben. Ich starrte in die Dunkelheit meines Zimmers. Das gewohnte blaue Licht meines Weckers beruhigte mich sofort. Erleichtert und erschöpft ließ ich mich zurück in die Kissen fallen.
Mein Herz raste und meine Stirn war schweißnass. Ich nahm meine Haare aus meinem klebrige Nacken und fächerte mir mit der Hand Luft zu. Obwohl es beinah Winter war und ich nicht gerade bedeckt bekleidet war, war mir kochend heiß. Ich war mir nicht sicher, ob es nur dieser Traum gewesen war, oder ob ich vielleicht eine Erkältung ausbrütete. Ich hätte mich schließlich auch bei Inna anstecken können. 
    Die nächtliche Aktion zerrte am Morgen mal wieder an meiner Motivation. Zu gern wäre ich einfach zuhause geblieben, hätte mich in meine Decke gekuschelt und den gesamten Tag verschlafen. Doch dann erblickte ich das Notenheft auf meinem Boden.
Sofort war ich hellwach. In Windeseile machte ich mich fertig, zog mir Kleidung an und raste aus dem Haus. Ich konnte gar nicht schnell genug in den Übungsraum kommen und ein Lied von Kai spielen. Es wäre etwas, das nur ich hatte und niemand sonst.
Ich blätterte durch die Seiten des Heftes und versuchte mich für eines der Lieder zu entscheiden. Ich fragte mich, welches der Lieder Luan wohl aussuchen würde. Dann stieß ich auf eine Seite mit der Überschrift ‚Für meinen kleinen Bruder‘. Diese Seite musste ich am Vorabend übersehen haben.
Ich wusste nicht, ob Luan wollen würde, dass ich genau dieses Lied spielte. Auf der einen Seite war ich mir ziemlich sicher, dass er mir das Notenheft auch deswegen gegeben hatte, auf der anderen Seite hatte ich ein mulmiges und beklemmendes Gefühl. Es war als würde ich meine Nase in Dinge stecken, die mich nichts angingen. Vielleicht hätte ich Luan erst fragen sollen, ob ich das Lied spielen durfte.
Ich zögerte kurz. Doch je mehr ich über die Noten auf dem Blatt schaute, desto sicherer wurde ich, dass dieses Lied wie für mich geschaffen war. Ich bildete mir ein darin einen tieferen Sinn zu sehen. Ich glaubte auserwählt zu sein, eine Verbindung zwischen Luan und Kai zu sein. Ich konnte die Gedanken eines liebenden Bruders zum Klingen bringen. 
Das Lied war von tiefer Trauer erfüllt, tiefe und drückende Töne schallten aus dem Klavier. Doch sie waren keineswegs angreifend. Sie versprühten Reue und Kummer. Keine Schuld und nichts Anklagendes.
Ich spielte und spielte und je länger ich den Tönen lauschte, desto sicherer war ich mir, dass sie voller Liebe waren. Sie sollten Trost spenden und Ruhe. Mein ganzer Körper wurde von einer unglaublichen Woge aus Wärme und Vertrauen durchzogen. Das Lied war wie eine Mutter, die ihr Baby in der Wiege schaukelte. Wie die Sonne, die das Land mit wärmenden Strahlen bedeckte. Wie der Schnee, der sich leicht und weich auf das Gras legte. Tränen drückten mir gegen die Augen. Es lag so viel in diesem einen Lied. Das Gefühl das ich beim Spielen hatte, konnte ich nicht beschreiben.
Ich fühlte mich lebendig. Als würde ich vor einem weiten Tal stehen, der Wind fegte durch mein Haar, ich breitete die Arme aus, atmete die kühle Luft ein. Schaute den Blättern zu, die durch die Luft gewirbelt wurden. Das Lied vereinte alle Jahreszeiten in sich. Es vereinte das Leben und den Tod. Es war wie das Gleichgewicht.
Als das Lied mit den letzen leisen Tönen sein Ende fand, bemerkte ich erst, dass ich tatsächlich weinte. Eine Träne rollte mir über die Wange und tropfte auf meine Hand.
Es war nicht meine Bestimmung jedes Lied der Welt zu spielen. Es war nicht meine Bestimmung die Beste zu sein und die Menschen mit meinem Können zu beeindrucken. Wie hatte ich so oberflächlich denken können, wenn die Musik doch so viel mehr verbarg?! Ich konnte Gefühle zum Ausdruck bringen, Nachrichten vermitteln, Menschen bewegen. 


Nach dem Unterricht wartete ich angespannt auf Luan. Ich lief ungeduldig auf und ab und biss mir vor Aufregung auf die Lippe. Endlich erschienen die blonden Locken in der Tür und steuerte geradewegs auf mich zu. Ich preschte Luan entgegen, nahm seine Hand und riss ihn in die entgegengesetzte Richtung. Verwirrt und überrascht hastete Luan hinter mir her. Wir drängten uns vorbei an den dichten Massen und bahnten uns einen Weg durch die Gänge und Flure. Schließlich erreichten wir den Übungsraum. Ich blieb davor stehen. Luan keuchte außer Atem.
„Du hast ein ganz schönes Tempo drauf.“, prustete er.
Er lächelte mich an, doch ich erwiderte sein Lächeln nicht. Ich blickte ihn ernst an, bis auch er seinen ernsten Blick aufsetzte.
„Ist etwas passiert?“, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
Dann öffnete ich die Tür zum Übungsraum und bedeutete Luan hinein zu gehen. Zögernd betrat er den Raum und schaute sich zu allen Richtungen um. Ich spähte noch einmal die Flure entlang und schloss dann die Tür hinter uns. Ich kramte das Notenheft aus meinem Rucksack und schritt zum Klavier. Ich setzte mich auf den Hocker, auf den ich in den letzten Tagen so viel Zeit wie lange nicht mehr verbracht hatte. Ich rutschte auf eine Seite hinüber und klopfte auf den freien Platz neben mir.
Luan stellte seinen Rucksack ab und ließ sich neben mir nieder.
Ich schlug die Seite mit dem Lied für Luan auf. Ich merkte, wie er neben mir zusammen zuckte, doch ich war ihm dankbar, dass er nichts sagte.
„Ich dachte das solltest du hören.“, meinte ich und vermied seinen Blick.
Ich hatte lange überlegt, ob ich es tatsächlich wagen sollte und Luan das Lied vorspielen sollte. Aber es wäre egoistisch gewesen es nicht zu tun. Ich hatte das Lied entdeckt und es gespielt. Ich hatte etwas derart Privates erfahren. Ich hätte Luan nie wieder ansehen können.
Ich räusperte mich. Dann setzte ich zum ersten Ton an. Mein Herz klopfte mir bis in den Hals. Mir wurde heiß und meine Finger fingen leicht an zu Kribbeln. Ich schluckte die ansteigende Aufregung hinunter, zwang mich zur Konzentration und begann zu spielen. Erneut ertönte das Lied, welches Kai für seinen Bruder geschrieben hatte.
Als ich fertig war, nahm ich meine Finger von den Tasten und legte sie auf meinen Schoß. Am liebsten wäre ich sofort aufgestanden und weggerannt. Ich wollte Luan nicht ansehen. Er sagte keinen Ton.
Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass er den Kopf gesenkt hielt. Ich schaute auf seine Hände und sein Körper schien zu beben.
Das unangenehme Gefühl verschwand langsam und so realisierte ich, dass Luan weinte. Ich drehte mich vorsichtig zu ihm. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Zwischenmenschliche Interaktion war nicht gerade mein Spezialgebiet. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn den Arm um die Schulter legen sollte, ob ich nach seiner Hand greifen sollte, oder ob ich einfach gehen sollte.
Zu meinem Glück erlöste Luan mich aus meiner Zwickmühle.
„Kia.“, flüsterte er. Dann hob er den Kopf und sah mich an. Seine Augen waren gerötet und seine Wangen nass geweint. Ich wusste er hatte das Lied genau so verstanden, wie es gemeint war.
„Ich… ich…“, setzte er an. Doch der Drang zu Weinen ließ ihn keinen Satz sprechen. Schließlich streckte ich meine Arme nach ihm aus. Dankbar ließ er sich gegen mich fallen und vergrub sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Sein Körper war warm und er duftete angenehm nach Sommer. Ich strich mit meiner Hand über seinen Rücken. Ich wusste genau, was er gerade fühlte. Ich verstand, wie überwältigend das Geschehene für ihn war. Es musste für ihn wie das Licht am Ende des Tunnels sein. Wie die letzte Ruhe. Er wurde erlöst. Er wurde freigesprochen.
„Danke.“, sagte er nach einer Weile.
„Gerne.“, erwiderte ich.
Er schlang seine Arme um meinen Körper und so verharrten wir eine Weile. Ich lehnte mich in seine Umarmung und genoss die vertraute Nähe, die er mir schenkte.
Als Luan sich von mir löste, wischte er sich die letzten Tränen aus dem Gesicht.
„Du bist unglaublich, weißt du das?!“, meinte er und lächelte mich an.
Es war ein schönes Gefühl jemanden glücklich gemacht zu haben. Und das allein mit einigen Tönen aus einem Klavier.
Luan schaute mich mit seinen dunklen Augen an. Sein Blick war voller Bewunderung, Dankbarkeit und einem Hauch Sehnsucht. Er hob seine Hand und strich mir damit über die Wange. Seine Berührung ließ warme Wellen durch meinen Körper ziehen. Langsam beugte er sich zu mir hinüber. Seine weichen Lippen trafen auf meine. Ich zuckte unmerklich zusammen. Sofort schoss mir mein Traum der letzten Nacht in den Kopf. Ich glaubte einen stechenden Schmerz zu spüren, der meinen Körper lähmte. Ich wich hektisch zurück und bereute es sofort. Ich wollte ihn nicht verletzen.
„Entschuldigung.“, sagte er. Er sah enttäuscht aus. Ich schüttelte den Kopf und wollte so schnell wie möglich das Weite suchen.
„Ist es wegen Tay?“, fragte er plötzlich. Seine Stimme klang ernster und fordernd.
Erschrocken und ertappt schaute ich ihn an.
Er kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und wandte den Blick von mir ab. Es schien als würde es ihn schmerzen mich anzusehen.
„Naja gut, wollen wir dann los?“, fragte er.
    Der restliche Tag beinhaltete einige der unangenehmsten Stunden meines Lebens. Ich brachte es nicht übers Herz Luan zu sagen, dass ich lieber nachhause wollte, nachdem er mich geküsst hatte.
Er sprach die ganze Fahrt kein Wort mit mir. Und auch, als wir mit seiner Mutter am Tisch saßen und unsere leeren Mägen füllten, sagte er kaum ein Wort. Seine Mutter schien die komische Spannung zwischen uns zu spüren, denn sie versuchte immer wieder Gespräche ins Rollen zu bringen. Doch weder Luan, noch ich wussten so wirklich was wir sagen sollten.
Nach dem Essen saß ich noch ungefähr eine Stunde in seinem Zimmer auf dem Boden ans Bett gelehnt. Ich starrte meine Socken an und Luan spielte auf seiner Gitarre herum. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er wütend auf mich war. Ich hatte überhaupt nichts getan und fühlte mich mehr und mehr ungerecht behandelt. Ich wusste nicht, ob ich bereuen sollte, dass ich ihm das Lied vorgespielt hatte. Nein, es war das Richtige gewesen. Er hätte mich einfach nicht küssen sollen. Zumindest nicht, wenn er im Nachhinein nicht mit einer Abweisung umgehen konnte. Im Grunde wusste ich nicht einmal, warum ich ihn abgewiesen hatte. Der Traum war doch nur ein Traum gewesen. Doch wahrscheinlich glaubte ich zu sehr daran, dass Träume eine tiefere Bedeutung hatten.
„Ich geh dann besser mal los.“, meinte ich irgendwann.
Ich stand vom Boden auf, verließ das Zimmer und machte mich daran meine Schuhe und Jacke anzuziehen.
„Achja, hier.“, meinte ich und holte das Notenheft aus meinem Rucksack. Ich fühlte mich irgendwie schlecht dabei, es in meinem Besitz zu haben.
„Behalt’ es.“, meinte Luan. So steckte ich es zögernd wieder ein. Ich wollte nicht diskutieren und ich befürchtete Luan würde das Heft wegwerfen, wenn ich es ihm zurückgab.
„Also dann bis Morgen.“, meinte ich und wandte mich zum Gehen.
Luan nickte und rang nach einem Lächeln.
Ich hielt einen Moment inne, überlegte, ob es irgendetwas gab, was diese Situation verbessern würde. Doch mir fiel beim besten Willen nichts ein.
Ich hatte zwar die Frage nach Tay nicht beantwortet, aber mein Ausdruck hatte wohl mehr als genug verraten. Ich fühlte mich schlecht. Ich fühlte mich schuldig. Wahrscheinlich hatte ich ihm mit meinem Verhalten falsche Signale gesendet und jetzt hatte ich unsere Freundschaft kaputt gemacht.
Als ich die Straße erreichte, drehte ich mich noch einmal um. Luan stand in der Tür und schaute mir nach. Er wusste es. Ich wusste es. Wir beide wussten es. Dies würde das letzte Mal sein, dass ich bei Luan war.



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