Dienstag, 7. April 2015

Piano Girl - Im Herzen spielt die Musik - KAPITEL 5

Nicht nur, dass ich mich seit meiner merkwürdigen Auseinandersetzung mit Luan jeden Tag mit meiner Mutter rumschlagen durfte, auch das Mittagessen wurde zu einem sehr unangenehmen Erlebnis. Denn ‚Legit‘ saß nach wie vor um mich und Inna herum. Inna hatte dabei viel Spaß. Sie flirtete zunehmend mit Chen, glaubte aber, dass ich dies nicht bemerkte. Und so sagte ich auch keinen Ton, wenn sie nach der Schule im Auto unaufhörlich von ihm Sprach.
Luan saß wie gewöhnlich neben mir. Doch er hatte sich so weit es nur ging von mir abgewandt. Er schaute mich nicht an, sprach kein einziges Wort mit mir. Ich wusste nicht, ob die anderen dies einfach nicht bemerken wollten, oder ob es ihnen schlichtweg egal war.
Ich fühlte mich seltsam leer. Morgens schaute ich verstohlen zu Tay hinüber. Ich betrachtete seinen Rücken, wie sich seine Schulterblätter unter seinem Hemd abzeichneten, wie sich seine Haare im Nacken leicht kringelten und wie sich sein Brustkorb hob und senkte und er ruhig atmete. Vor einer Weile noch war ich der Meinung gewesen niemanden zu brauchen. Selbst Inna, meine einzige Freundin, hatte ich wenig beachtet. Ich kam allein einfach besser zurecht. Aber die letzten Tage schien sich das Blatt gewendet zu haben. Ich war sogar im Grunde ganz froh, dass sich Chen, Kien, Kris und Luan zu uns setzten. Auch wenn die Stimmung zwischen mir und Luan nach wie vor angespannt war, gaben sie mir ein Gefühl der Ruhe und der Zugehörigkeit. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das einmal brauchen würde. Das bunte Stimmengewirr um mich herum, schien mich zu beruhigen. Und auch, dass die Jungs mich größtenteils aus ihrem Gespräch raus hielten und mich einfach einen stillen Teil der Gruppe sein ließen, sagte mir sehr zu. Es war ein Gefühl der Beständigkeit, diese Routine jeden Tag. Aber nicht die Routine der Reha, sondern meine eigene. Und ich war frei alles daran zu ändern. Ich fühlte mich wieder wie ich und als hätte ich wirklich die Zügel meines Lebens in der Hand. Nun lag es nur noch an mir, wann ich von Schritt in den Galopp los preschen würde. 

Am Wochenende lag ich gelangweilt auf meinem Bett und starrte an die Decke. Es war schon Nachmittag und ich hatte noch immer meinen Schlafanzug an. Das waren immer die schlimmsten Tage - die Tage an denen man realisierte, dass die Freunde um einen herum gar nicht wirklich Freunde waren und dass die Zugehörigkeit sich auf die halbe Stunde Pause beschränkte. 
Ich schaltete irgendwann meinen Laptop ein und scrollte durch unsere Schulwebsite. Da stieß ich auf einen Artikel über die Enderson.
    „Neue Talente gesucht“
hieß die Überschrift. In dem Artikel ging es um die neue Förderung der Enderson und die Eröffnung eines neuen Studienfachs zur Ablösung eines anderen. Ich las Wort für Wort den Artikel. Plötzlich schien der Weg, den ich gesucht hatte direkt vor mir aufzutauchen. Und mein Pferd stand gesattelt davor und wartete ungeduldig auf den Ritt.
Wieso ich nicht früher auf diese Idee gekommen war, wusste ich auch nicht. Wahrscheinlich, weil ich den Weg nicht sehen konnte. So wie ich nicht wahrhaben wollte, dass Tay sich nicht für mich interessierte und so wie ich nicht sehen wollte, dass das zwischen mir und Luan wohl mehr als nur Freundschaft war, oder gewesen war.
Ich warf mich kopfschüttelnd auf mein Bett. Wie konnte ich nur so dermaßen dumm gewesen sein?! Es konnte doch nicht sein, dass mich ein kleiner Artikel so viel erkennen ließ, was ich vorher nicht sehen konnte.
Ich sog tief die Luft in meine Lungen und hielt sie, bis mir leicht schwindelig wurde. Ich musste nicht mehr so Klavier spielen können wie vorher. Ich musste niemandem irgendetwas beweisen. Das Klavier und ich wir waren schon immer eins gewesen. Von der ersten Sekunde an, von der ersten Berührung. Wie hatte ich das nur vergessen können. Plötzlich wuchs in mir der Drang zu spielen. Meine Finger wurden ganz kribbelig und am liebsten wäre ich sofort nach unten gestürmt, doch das konnte ich nicht. Ich hatte zwar endlich eine leuchtete Glühbirne über meinem Kopf, aber vor meiner Mutter spielen … so weit war ich noch nicht. Schritt für Schritt und in meinem Tempo. So würde es laufen.
Ich setzte mich wieder auf und druckte den Artikel der Enderson aus. Ich nahm einen Marker von meinem Schreibtisch und umrandete die Bewerbungsfrist mit einem fetten pinken Kreis. Dann pinnte ich das Blatt direkt vor mich an die Wand. Das wäre jetzt mein Ziel. Ich hatte bis dahin zwar noch eine Menge vor, aber das würde ich schon schaffen. Und selbst wenn nicht, machte mich der Gedanke daran endlich einen Weg für mich gefunden zu haben unglaublich glücklich.
Das Klingeln meines Handy’s riss mich aus meiner ansteigenden Euphorie.
„Heute spontan ein Konzert. 19Uhr hole ich dich ab?!“, schrieb Inna.
Ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte, oder ob der Stich in meinem Herzen dies überlagerte. Sonst wäre es wohl Luan gewesen, von dem ich diese Nachricht erhalten hätte. Er hätte mich förmlich angefleht zu kommen und wäre überglücklich gewesen, wenn ich zugesagt hätte. Aber so fühlte ich mich wie das fünfte Rad am Wagen, das netterweise von Inna noch eingeladen wurde. Wenn man mal ehrlich war, dann wollte mich im Grunde doch niemand da haben.
Kurz nachdem ich Inna geschrieben hatte, dass es zwar nett gemeint war, ich aber niemanden auf die Füße treten wollte, bekam ich noch eine Nachricht. Diesmal von einer mir unbekannten Nummer.
„Wir wollen alle, dass du kommst! Sogar Luan! Bis nachher, Chen.“, schrieb er und seltsamer Weise musste ich darüber lachen. Ich freute mich für Inna und dass sie offensichtlich gerade bei Chen war. Ich schenkte seinen Worten zwar nicht wirklich viel Glauben aber es schien doch nett zu sein, dass er mir wohl auf Inna’s Bitte hin eine Nachricht schrieb.
Ich antwortete kurz, dass ich es mir überlegen würde, obwohl für mich schon klar war, dass ich überall hingehen würde, aber nicht auf ein Konzert, wo ich mich gleich zwei Personen stellen müsste. Ja, ich war ein Feigling. 
Mein Handy klingelte.
„Was soll das heißen, du überlegst es dir?!“, schnaubte Inna mich an, sobald ich die grüne Taste gedrückt hatte und das Handy an mein Ohr hielt.
„Was soll ich denn machen, wenn die Jungs auf der Bühne sind?! Soll ich mich allein den Kreisch-Fans stellen? Kia, ehrlich! Das kannst du mir nicht antun.“, plapperte sie.
„Ehrlich Kia!“, hörte ich Chen ins Telefon brüllen.
„Hör mal.“, meinte Inna plötzlich leiser und sie schien sich von dem Geräuschpegel im Hintergrund zu entfernen. „Ich weiß ich war in letzter Zeit keine gute Freundin. Ich habe sehr wohl mitbekommen, dass bei dir und Luan der Haussegen schief hängt und ich hätte für dich da sein sollen. Es tut mir leid.“, sagte sie und ich hörte an ihrem Tonfall, dass sie es ehrlich meinte.
„Ach quatsch Inna.“, wollte ich sie unterbrechen.
„Nein, Kia! Kein Quatsch. Wir machen das so: ich komme gleich zu dir, dann erzählst du mir die ganze Geschichte, von Anfang bis Ende und dann machen wir einen Masterplan.“
„Einen Masterplan wofür?“, lachte ich.
„Ganz egal. Luan zurück bekommen, Rache, was du eben gern möchtest. Na wie klingt das?“, fragte sie.
Obwohl mir nicht wirklich danach war, lenkte ich ein. Inna quiekte am anderen Ende der Leitung und meinte sie würde sich sofort auf den Weg machen.
Es dauerte in der Tat keine zwanzig Minuten, da läutete die Türklingel und eine fröhliche Inna marschierte die Treppen hinauf.
„Das Outfit ist jetzt aber nicht dein ernst?!“, fragte sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Bis zum Konzert muss sich da noch drastisch etwas tun. Aber für jetzt drück ich mal ein Auge zu und schiebe es auf dein gebrochenes Herz oder so.“
Ich schüttelte nur den Kopf und entgegnete nichts.
    Die nächste Stunde war ich dann damit beschäftigt Inna die ganze Geschichte zu erzählen. Ich hatte wahrscheinlich in meinem ganzen Leben noch nicht so viel an einem Stück geredet. Inna hörte aufmerksam zu. Manchmal sah sie mich erschrocken an oder schüttelte entsetzt den Kopf. Doch die meiste Zeit starrte sie auf ihre Füße und kaute an einem der Kekse herum, die uns meine Mutter ins Zimmer gebracht hatte.
Ich berichtete Inna von der Begegnung mit Tay in dem Musikgeschäft und von seinen harschen Worten im Baumhaus. Ich erzählte ihr von dem fiesen Blick, den er mir zugeworfen hatte, als ich mich mit Luan unterhalten hatte. Ich redete sogar von Yuni und von dem schrecklichen Abend, als ich Luan im Proberaum gefunden hatte. Ich berichtete von Tay und Hana, von Kai’s Notenheft, von meinem heimlichen Spielen vor der Schule und schließlich von dem Kuss. Die Worte kamen mir zwar nur stockend über die Lippen, aber ich schaffte es Inna mit allen Details zu versorgen.
„Wow!“, meinte sie, als ich endlich meinen letzten Satz beendet hatte. „Wieso hast du mir nicht vorher mal was gesagt?!“, wollte sie wissen und ich sah ihr an, dass sie etwas enttäuscht war erst jetzt alles zu wissen.
Entschuldigend zuckte ich mit den Schultern.
„Also mal ganz von vorn, nur, dass ich das alles richtig verstanden habe. Tay ist mit Hana zusammen und das passt dir nicht in den Kram. Auf der anderen Seite hat Luan dich geküsst und du hast ihn abgeblockt, daher diese Stimmung zwischen euch.“, wiederholte Inna und ich nickte.
„Aber eine Frage…“, meinte Inna.
Erwartungsvoll schaute ich sie an.
„Luan oder Tay?“, fragte sie und blickte mich herausfordernd an.
Ihre Frage überrumpelte mich. „Was?“, fragte ich perplex.
„Wieso hast du Luan zurück gewiesen? Weil du ihn nicht magst, oder weil du der Illusion von Tay hinterher läufst?“, brachte Inna es auf den Punkt.
Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Illusion.
„Selbst wenn Tay nicht mit Hana zusammen ist und sich tatsächlich für dich interessiert, willst du ihn denn wirklich? Nachdem, was du mir gerade erzählt hast, ist er nicht wirklich nett zu dir. Ich sehe ja ein, dass da was zwischen euch ist, aber du verhältst dich wie in einem Drama wo die Mädchen den Badboys hinterher rennen und die netten Jungs leer ausgehen.“, sagte sie und lehnte sich gegen die Wand. „Meinst du nicht?!“, hakte sie nach.
Jetzt wo sie es so sagte, spürte ich, dass eine seltsame Wahrheit darin verborgen lag.
„Darf ich dich was fragen?“, wollte sie wissen. Ich nickte.
„Wie hat es sich mit Luan angefühlt. Und sei ehrlich.“
Ich schluckte. Ich hatte gerade zum ersten Mal ein tiefgründiges Gespräch mit Inna, bei dem es um mich ging. Und jetzt musste ich derart persönliche Dinge preisgeben.
„Es war einfach so unkompliziert. Ich war gern in seiner Nähe. Er hat mir das Gefühl gegeben immer für mich da zu sein und mich aufzufangen, falls ich fallen würde. Er hat mich zum Lachen gebracht und ich habe mich gefühlt, als würde jemand meine Anwesenheit schätzen. Nicht nur, dass ich mich an ihn geklammert habe, er hat sich auch an mich geklammert.“, gestand ich und merkte, je mehr ich sprach, dass er mir unglaublich fehlte und dass die Leere durch ihn entstanden war.
„Und wie hast du dich mit Tay gefühlt? Auch so?“, wollte Inna nun wissen.
Nachdenklich schaute ich sie an und wusste nicht ganz worauf sie hinaus wollte.
„Mit ihm ist es anstrengender.“, begann ich. „Ich muss vorsichtig sein und aufpassen, was ich sage. Mit ihm muss man dieses nervige Spiel spielen, dieses Hin und Her.“, knirschte ich und erinnerte mich an die wenigen Situationen zurück, die ich mit Tay hatte. „Er schirmt sich ab. Aber man weiß nicht, ob man einfach durchbrechen, oder auf Abstand bleiben sollte. Nichts was er tut oder sagt ist eindeutig.“, erläuterte ich.
„Ich will ja nicht Beziehungsexpertin spielen und ich kann dir auch nicht sagen, was du fühlst, aber für mich sind da einige Dinge ganz klar, die dir nicht so klar zu sein scheinen.“, fuhr Inna mit ihrer Therapeutenstimme fort.
„Und die wären?“, wollte ich wissen.
„Tay spielt Spielchen. So einen willst du nicht. Und so einen brauchst du auch gar nicht. Luan meint es ernst mit dir und auch wenn du für ihn vielleicht nicht das gleiche empfindest, finde ich bist du es ihm schuldig ihn nicht wegen Tay abzuweisen. Stell dir mal vor du wüsstest Tay will dich nicht, weil er auf die eventuelle Chance wartet, dass ich was von ihm wollen könnte.“
Dieser Vergleich war für mich nicht sofort schlüssig und ich brauchte eine Weile um zu verstehen, worauf sie hinaus wollte.
„Weißt du, es ist nicht nur irgendjemand, an den Luan dich verliert. Es ist einer seiner besten Freunde. Und es wäre auch etwas anderes, wenn du und Tay jetzt zusammen wäret, aber meinst du nicht es ist etwas fies, ihm in dem Glauben zu lassen gegen eine Illusion verloren zu haben?!“
Plötzlich fühlte ich mich total schrecklich. Ich fragte mich, wieso Inna mich anscheinend so gut kannte. Ich war nicht unbedingt leicht zu beeinflussen, zumindest nahm ich das an, aber ich erkannte die Wahrheit, wenn sie jemand vor mir ausbreitete. Ich empfand etwas für Luan. Ich wusste nicht was, aber es war definitiv etwas. Und Tay konnte mir doch ehrlich gestohlen bleiben.
„Und jetzt suchen wir dir mal etwas Vernünftiges zum Anziehen raus.“, durchbrach Inna meine Gedanken. Sie rutschte vom Bett und machte sich daran meinen Kleiderschrank zu durchsuchen.
„Wir müssen ja sicherstellen, dass Luan keiner anderen hinterherschaut, bis du dich entschieden hast was du willst.“, grinste sie.
Sie warf mir eine knappe Shorts zu und ein enges Top. Dazu zog ich eine Strumpfhose an und meine graue Pulloverjacke, um das ganze Outfit ein wenig gemütlicher zu gestalten. Inna fand die Idee zwar gar nicht gut, aber ich setzte mich trotzdem durch.
Sie selbst zog ein hautenges schwarzes Kleid an. Ich musste zugeben, ich hatte nie wahrgenommen, wie gut Inna aussah. Sie war groß und schmal, hatte unfassbar lange Beine und ihr Gesicht wurde von ihrem kurzen Bob perfekt umrandet. Sie schminkte sich ihre Augen mit einem schwarzen Eyeliner und legte noch etwas Blush auf.
„Sag mal, bist du jetzt eigentlich mit Chen zusammen?“, fragte ich. Inna grinste mich daraufhin breit an. „Also ich würde sagen offiziell noch nicht, aber das dürfte wohl nicht mehr lange dauern.“, meinte sie.
„Das freut mich wirklich für dich.“, meinte ich und umarmte meine beste Freundin.
„Danke! Chen ist unglaublich süß und lieb. Auch wenn er seine bestimmerischen Minuten haben kann und es überhaupt nicht leiden kann, wenn irgendetwas nicht nach Plan läuft.“, lachte sie.
Ich stellte mir Inna und Chen zusammen vor. Ich erinnerte mich daran, wie er sie ansah wenn wir in der Pause zusammen am Tisch saßen. Es war eine Mischung aus Bewunderung und Unglauben. Es war der gleiche Blick, mit dem Luan mich angesehen hatte. Dagegen lag ins Tay’s Blick Hohn und Missbilligung. Inna hatte recht, Tay war das unerreichbare Arschloch, dem alle Mädchen der Schule hinterherrannten. Und ich war naiv genug bei dem ganzen Quatsch mitzumachen.
    Ich starrte aus dem Fenster hinaus in die drückende Dunkelheit. Die Häuser und Bäume sausten an mir vorbei. Es war still im Auto und ich versuchte in meinen Gedanken zu versinken. Ich wurde mit jedem Meter, den wir voran kamen nervöser. Aber ich konnte mir nicht wirklich erklären woran das lag. Wahrscheinlich hatte ich einfach nur Angst gleich zwei meiner Probleme auf einmal zu begegnen. Ich hatte Angst, wie ich reagieren würde, wenn ich Tay sah. Dieses seltsame Kribbeln, was ich immer hatte, wenn er in der Nähe war, fühlte sich für mich mehr und mehr nach Unwohlsein an, als nach tatsächlichen positiven Gefühlen für ihn. Und ich hatte Angst vor Luan’s Reaktion. Was würde er sagen? Würde er überhaupt etwas sagen? Oder würde er mich ignorieren? Chen hatte zwar gesagt, dass auch er mich gern dabei haben würde, aber ich glaubte zu wissen, dass keiner seiner Bandkollegen mitbekommen hatte, dass wir uns nicht mehr wirklich gut verstanden, beziehungsweise zwischen uns Funkstille herrschte.
„Hast du dir schon überlegt, was du sagst?“, fragte Inna mich.
Ich schüttelte den Kopf. „Muss ich denn was sagen?“, wollte ich wissen.
Inna zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich nicht. Ich weiß es auch nicht. Wäre ja auch bescheuert ihm Hoffnungen zu machen.“, meinte sie und sie hatte recht.
Es wäre blöd, wenn ich einfach zu Luan spazierte und ihm sagte ‚Hey, also ich will nichts von Tay, nur dass du es weißt. Ach aber das heißt nicht, dass ich deswegen mit dir zusammen sein will.‘ Irgendwie war alles, was ich hätte sagen können in dieser Situation mehr als unangebracht. Zumal ich so etwas auch nicht kurz vor seinem Auftritt ansprechen konnte. Ich müsste allein mit ihm sein und ihm in einem ruhigen Moment sagen, dass ich ihn nicht wegen Tay zurückgewiesen hatte. Allerdings fragte ich mich langsam aber sicher, ob das überhaupt irgendetwas an der Situation ändern würde. Musste es nicht noch schlimmer sein, quasi grundlos zurückgewiesen worden zu sein?! Für mich wäre es durchaus das größere Übel einfach so stehen gelassen zu werden und nicht für Inna oder in diesem Fall Hana. So hatte ich wenigstens das Gefühl nicht so gut wie jemand anderes zu sein. Nicht, dass ich das mochte, oder dass dies etwas Gutes war. Aber ich fand es besser als einfach so nicht gut genug zu sein, ohne Vergleich - wenn das irgendeinen Sinn ergab. Nur musste das natürlich nicht jeder so sehen und Inna schien da anscheinend ja auch anderer Auffassung zu sein. Ich verzog das Gesicht zu einem grimmigen Ausdruck und verschränkte genervt die Arme vor der Brust.

Die Vorband hatte bereits zu spielen begonnen, als Inna und ich die kleine Bar in der Stadt betraten. Überwiegend drängten sich Mädchen an den kleinen Stehtischen und zappelten vor der Bühne. Ich erkannte viele Gesichter aus der Schule und fragte mich inständig, woher sie alle von diesem Konzert wussten. Inna zog mich durch die Massen zur Bühnenseite. Hier wartete ‚Legit‘. Sofort rutschte mir mein Herz in die Hose. Luan schaute mich an. Ich konnte seinen Blick nicht deuten. Seine blonden Locken lagen ihm wirr in der Stirn und er hatte seinen Ansatz nachfärben lassen. Seine dunklen Augen ruhten umrahmt von schwarzen Wimpern. Sie waren ausdruckslos. Das Glitzern war verschwunden. Tiefe Augenringe säumten sein Gesicht, seine helle haut wirkte weniger golden und dafür kahl. Schließlich spannte sich sein Kiefer an und er wandte de Blick von mir ab.
„Schön, dass du da bist.“, umarmte mich Chen im nächsten Moment. Auch der Rest der Band umarmte mich zur Begrüßung. Es war mir total unangenehm und wirkte seltsam gezwungen. Im Gegensatz zu Inna hatte ich nicht unbedingt einen Draht zu den Jungs, das nahm ich zumindest an.
„Luan stell dich nicht so an.“, schlug Chen ihm auf den Rücken. Er verzog die Lippen zu einem gequälten Lächeln und machte einen Schritt auf mich zu. Ohne mich wirklich zu berühren, umarmte er mich.
„Tschuldigung.“, flüsterte ich. Ich fühlte mich ehrlich schrecklich. Ich hätte nicht kommen sollen. Es war mehr als offensichtlich, dass Luan mich nicht hier haben wollte und dass ich ihm mit meiner Anwesenheit das Leben schwer machte.
„Da ist er ja endlich.“, meinte Kien und hob die Arme in die Luft.
Ich drehte mich um und erstarrte beinah. Tay stand direkt vor mir. Er hielt seinen Gitarrenkoffer in der Hand. Sein Haar war zerzaust, er atmete schwer aber er sah unfassbar gut aus. Ich ermahnte mich jetzt keine blöden Sachen zu machen. Ich spürte sehr wohl, dass Luan mich aufmerksam beobachtete. Ich musste mich zusammenreißen. Ich horchte in mein Inneres. Und in der Tat war da nichts. Ich bekam ein seltsam mulmiges Gefühl in der Magengegend, aber das war eindeutig kein gutes Gefühl. Ich war nervös, aber nicht im Positiven. Viel mehr hatte ich Angst vor ihm. Davor, was er als nächstes tun oder sagen würde. Ich fühlte mich wie eine Marionette und er zog die Strippen. Es war eindeutig an der Zeit die Fäden durchzuschneiden. Zwar hatte ich den Großteil meines Lebens mit diesem Jungen verbracht, aber das musste nicht bedeuten, dass ich es nicht auch ohne ihn schaffte.
„Kommt Hana heute auch?“, fragte Kien vorsichtig. Ich hörte den kaum merklichen Unterton in seiner Stimme und frage mich, ob Tay diesen wohl auch bemerken würde.
Tay schüttelte den Kopf.
„Gott sei Dank! Das hätte ich nicht ausgehalten.“, stöhnte Kien erleichtert und auch Kris, Chen und Luan schienen sichtlich erleichtert.
„Wie könnt ihr euch derart freuen, dass seine Freundin nicht kommt? Ist das nicht ein wenig fies?!“, fragte Inna leicht empört.
„Willst du sie etwa hier haben?“, lachte Chen und zog Inna in seine Arme. Er gab ihr einen Kuss auf die Schläfe, woraufhin sie zufrieden grinste.
„Warte, was? Freundin?“, fragte Tay. Es war komisch ihn so sprechen zu hören. Alles was er tat schien so dermaßen geplant, dass es ungewohnt war ihn überrascht zu sehen.
„Hana ist doch deine Freundin?“, meinte Inna und verstand nicht wirklich, was gerade vor sich ging.
„Wir müssen uns vorbereiten, Leute.“, durchbrach Chen die Situation. Er ließ von Inna ab und bedeutete den anderen sich hinter die Bühne zu begeben.
„Kia.“, meinte Tay. Ich schaute vorsichtig zu ihm hoch. Mein Herz schlug wie behämmert in meiner Brust.
„Dachtest du die ganze Zeit, ich wäre mit Hana zusammen?“, fragte er mich. Seine Augen durchbohrten mich förmlich. Ich musste in jedem Fall ruhig bleiben. Chen umarmte Inna noch einmal, Kris und Kien hantierten an der Tür rum und schienen schon ziemlich aufgeregt zu sein. Luan stand einfach nur dort. Er ging in der Gruppe unter, aber ich wusste ganz genau wo er war und was er tat. Mir blieb keine einzige Bewegung verborgen. Er schaute mich nicht an, auch Tay nicht. Er schaute zu Boden und versuchte unscheinbar zu sein. Aber ich wusste genau, dass er jedes Wort hörte, was gesprochen wurde. Es war meine Chance. Ich musste nicht einmal mit ihm sprechen und konnte ihm zeigen, dass es bei der ganzen Sache nicht um Tay ging. Oder zumindest nicht mehr.
„Ist das wichtig?“, stellte ich eine Gegenfrage, die Tay aus dem Konzept brachte. Er stammelte irgendetwas. Dann fuhr er sich mit der Hand nervös durch die Haare. Eine Geste, die bei Luan unsagbar niedlich wirkte, doch bei Tay war es eher lächerlich.
„Ja, weil…“, fing er an.
„Ist doch auch egal oder nicht?!“, unterbrach ich ihn.
Er schaute mich an. Etwas in seinem Blick verriet mir, dass er es kapiert hatte.
„Wie dem auch sei, ich bin nicht mit ihr zusammen.“, meinte er und hatte seine Fassung wieder. Er schaute mich abwartend an. Schon wieder spielte er mit mir. Doch die Genugtuung würde ich ihm nicht geben. Er wartete auf eine kleine Reaktion von mir. Doch ich würde dem kleinen Fünkchen Hoffnung, was sich gerade einen Weg an die Oberfläche bahnte keine Chance geben. Ich hatte Freundschaft mit Liebe verwechselt und das nicht nur einmal.
„Toll.“, meinte ich. Im nächsten Moment war Inna an meiner Seite.
„Kommst du?“, fragte sie mich und schaute dann neugierig zu Tay hinauf. Sein Blick ruhte weiterhin auf mir. Ich grinste ihn an.
„Viel Spaß beim Auftritt gleich.“, meinte ich und gab Inna’s Drängen nach.
Ich drehte mich noch einmal um. Ich schaute Luan direkt in die Augen. Noch immer zeigte er keine Reaktion, aber das war mir egal. Ich hatte meinen Teil getan. Jetzt hieß es abwarten.
„Spannung! Erzähl mir alles.“, meinte Inna und freute sich neben mir. Wir bahnten uns einen Weg durch die Mädchenansammlung und platzierten uns direkt vor der Bühne. 


Am Montag wäre ich am liebsten nicht in die Schule gegangen. Ich wäre am liebsten mal wieder vor meinen Problemen davon gelaufen. Ich hasste eben Konfrontationen. Die erste Stunde überstand ich gut. Wie sich herausstellte, war mir Tay tatsächlich ziemlich egal geworden. Er schaute mich zwar einige Male seltsam an, aber das störte mich nicht weiter. Meine Nervosität drängte sich erst kurz vor dem Mittagessen wieder an die Oberfläche. Ich hatte Luan den Tag noch nicht gesehen. Es gab also noch Chancen, dass er gar nicht hier war. Meine Hoffnungen schwanden, als ich mir meinen Weg zu dem kleinen Tisch bahnte, an dem ‚Legit‘ bereits saß. Doch nicht nur, dass mein Platz neben Luan frei war, auch Tay war diesmal anwesend. Ich wäre fast mitten im Gang stehen geblieben, so sehr brachte mich das aus der Fassung. Ich zwang mich einen Schritt nach dem anderen auf den Tisch zu zugehen. Ich ließ mich auf meinen Platz fallen und versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Ich bildete mir allerdings ein, dass Luan wieder eher meine Nähe suchte, als sich von mir abzuwenden. Auch, wenn es vielleicht nicht der Fall gewesen war, beruhigte mich dieses Gefühl. Mit ihm an meiner Seite würde ich das durchstehen. Ich würde mich nicht von Tay unterkriegen lassen und ich würde schon gar nicht bei seinen billigen Spielchen mitmachen.
Inna warf mir irgendwann einen alles sagenden Blick zu. Ich nickte nur vorsichtig und sie verdrehte die Augen. Sie fand es anscheinend genau so blöd wie ich, dass Tay hier war. Vorher hätte ich mich wahrscheinlich gefreut, aber jetzt wirkte es total vorhersehbar auf mich. Ich hätte mir das alles schon denken können. Ich wollte mir ja nicht einreden, dass er eventuell was von mir wollte, aber so wirkte es nunmal. Erst schien ihn ziemlich zu interessieren, ob ich glaubte er wäre mit Hana zusammen oder nicht und nun setzte er sich auch noch zu uns an den Tisch. Was mich umso mehr rätseln ließ, wo er bis jetzt seine Pausen verbracht hatte, denn ich nahm an, er wäre bei Hana gewesen.
Mir blieb auch nicht verborgen, dass eine große Gruppe Schüler uns beobachtete. Dass es den ‚Legit‘ Tisch nicht mehr gab, schien einige ganz schön zu verwirren. Diese Annahme wurde dadurch bestätigt, dass es in der wirklich vollen Cafeteria einen freien Tisch gab. Mitten in den Massen stand ein Tisch verlassen dort. Der Bandtisch. Niemand traute sich sich dort hinzusetzen. Stattdessen starrten sie den leeren Tisch an und suchten dann im ganzen Raum nach den Bandmitgliedern, bis sie sie schließlich bei Inna und mir fanden. Das wäre ja alles kein Problem gewesen, wenn es vielleicht die ersten Tage so gewesen wäre. Aber mittlerweile waren schon einige Wochen verstrichen und die Schüler schienen es immer noch nicht wirklich zu kapieren. Was auch immer es da eigentlich zu kapieren gab. 

„Tschüss, Kia. Bis nachher.“, rief meine Mutter die Treppe hinauf. Ich wartete bis die Haustür ins Schloss fiel. Sofort sprang ich auf, rannte nach unten und setzte mich an den großen Flügel. Ich lauschte noch, wie meine Mutter den Wagen anließ und schließlich aus der Einfahrt rollte. Endlich. Seit Tagen hatte ich darauf gewartet, dass meine Mutter mit Meng wegfahren würde und ich einige Stunden allein zuhause hatte. Ich hatte den Flügel so vermisst. Ich klappte Kai’s Heft auf und suchte mir ein Stück zum spielen raus. Nach und nach hatte ich immer mehr das Gefühl nie aufgehört zu haben. Dieses fremde Gefühl, was ich anfangs gehabt hatte, war vollends verschwunden.
Es war an der Zeit. Jetzt oder nie. Ich legte Tay’s Lied in den Notenständer und schaute mir noch einmal die Noten an. Mittlerweile konnte ich das Lied wahrscheinlich blind und im Schlaf spielen. Jetzt war ich dran es fortzusetzen. Es war nicht nur ein Schritt in Richtung Enderson, sondern es war ein Beweis, dass ich die Fäden zertrennt hatte. Ich würde sein Lied weiterschreiben können einfach nur, weil es ein Lied war. Nicht weil es von ihm war. Oder doch eben gerade weil es von ihm war. Weil er und ich eine Geschichte hatten und eine Freundschaft, auf die man zurückblicken konnte. Uns verband etwas und genau deswegen würde ich dieses Lied schreiben können. Es war nur Tay. Tay der kleine Junge, der mich in die Welt des Klaviers geführt hatte. Nicht mehr und nicht weniger.

Inna bemerkte sofort, dass ich die letzten Tage extrem abwesend war. Jeden Morgen fuhr ich zur Schule, schrieb an dem Lied weiter und quälte mich anschließend durch die Stunden. Ich gab es ja nur ungern zu, aber ich litt langsam aber sicher an massivem Schlafmangel, von dem ich mich wohl erst am Wochenende erholen würde. Doch bis dahin standen noch mehr als 24 Stunden aus.
Ich hing beim Mittagessen gähnend am Tisch. Inna schüttelte ab und an den Kopf. Sie hatte versucht aus mir heraus zu kitzeln was los war, aber diesmal blieb ich standhaft und erzählte ihr keinen Ton. Ich wollte mich allein auf diesen Weg begeben. Mal wieder. Aber ich brauchte das. Ich musste wissen, dass ich es allein schaffte. Und so wirklich helfen konnte mir ja eh niemand. Obwohl ich gestehen musste, dass es hilfreich gewesen wäre, wenn mich Tay weniger mit seiner Anwesenheit belästigen würde. Er saß mir gegenüber und durchdrang mich mit seinem kalten Blick. Wann immer ich den Kopf hob, weil ich mich beobachtet fühlte, grinste er mich an. Daraufhin blinzelte ich mit schweren Augen und senkte den Kopf wieder. Ich versuchte inständig den Lärm um mich herum auszublenden. Doch es war schwer das schreckliche Rauschen und Sausen in meinen Ohren auch nur für eine Sekunde zu ignorieren. Mein Kopf hämmerte und ich hatte mehr und mehr das Gefühl den Halt unter den Füßen zu verlieren. Vielleicht würde mir ein Kaffee gut tun, dachte ich mir. Und ohne weiter darüber nachzudenken, oder auch nur einen Ton zu sagen, stand ich vom Tisch auf und wankte durch das Gedränge zum Kiosk. Ich wusste im Grunde schon jetzt, dass ich diese Entscheidung bereuen würde, aber das war es mir gerade wert. Die Aussicht auf einen weckenden Koffeinkick war viel zu verlockend.
„Ist alles okay mit dir?“, fragte jemand an meiner Seite. Ich spürte wie mein Arm stützend gehalten wurde. Sofort fühlte ich mich sicherer. Ich war unendlich müde und stand total neben mir. Ich begriff zum Glück rechtzeitig, dass es sich um Luan handelte, der neben mir stand. Denn beinah wäre ich zurück gewichen und hätte mich mehr oder weniger brutal aus seinem Griff befreit. Und das hätte definitiv die falschen Signale ausgesandt.
„Luan.“, presste ich hervor. Mir war schwindelig, meine Augen drohten zu zuklappen und ich wünschte mir in diesem Moment nichts sehnlicher als in ein weiches Bett zu fallen und einfach zu schlafen.
„Du siehst gar nicht gut aus.“, meinte er. Seine Stimme klang besorgt. Insofern ich das noch beurteilen konnte.
„Ich bin nur so müde.“, stammelte ich. Allerdings wusste ich nicht, ob es auch nur annähernd so verständlich klang, wie ich glaubte.
„Setz dich hier hin ich hol dir einen Kaffee.“, meinte er und drückte mich sanft auf eine Bank. Dankend schmiegte ich mich an das kalte Holz der Bank. Das Land der Träume zog kräftig an mir. Warum gab ich eigentlich nicht nach?!
    Der bittere Geschmack des Kaffees holte mich endlich aus meiner Benommenheit. Ich wusste zwar, dass dieser Effekt nur kurz anhalten würde, aber ich genoss einfach den Moment und bis ich zuhause war würde es wohl ausreichen.
„Schläfst du momentan nicht gut?“, fragte Luan. Es war das erste Gespräch, das wir seit dem Kuss miteinander führten. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wollte es nicht wieder vermasseln. Ich hätte am liebsten sofort gesagt, dass ich nichts von Tay wollte, falls er das noch dachte und dass ich mich geirrt hatte und total blöd gewesen war. Doch das konnte ich nicht. Zum einen, weil ich noch immer nicht ganz Herr meiner Sinne war und zum zweiten wäre das viel zu dramatisch und viel zu direkt gewesen. Vielleicht wollte Luan mich ja auch gar nicht mehr?! Wollte ich ihn denn? Ich hasste mich selbst dafür, dass ich es nicht einmal auf die Reihe bekam meine eigenen Gedanken zu sortieren. Wann immer ich allein war, sehnte ich mich nach Luan’s Nähe. Nach dem Glanz in seinen Augen, seinem schallenden Lachen, den niedlichen Zähnen und seinem unglaublichen Duft. Aber jetzt wo er hier war, wusste ich nicht mehr, wie ich meine Gefühle einschätzen sollte. Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust und ich war mir fast sicher, dass er es hören konnte. Aber ich spürte auch ein Verlangen danach ihn von mir zudrücken. Auch wenn ich nicht wusste wieso. Ich wollte weglaufen und diese seltsame Beklemmung lösen.
„Doch, doch. Nur eben nicht so viel.“, antwortete ich schließlich und rang nach einem Grinsen.
„Du, hör mal.“, begann er seinen Satz. Er wandte den Blick in die Ferne und sah mich nicht mehr an.
„Inna hat mich gebeten, dich nach der Schule nachhause zu fahren. Sie hat wohl was mit Chen vor und will dich so nicht allein lassen.“, fuhr er fort.
Ich blickte über die Schulter zu unserem Tisch zurück. Chen hatte den Arm um Inna gelegt. Alle schienen glücklich zu sein. Nur Tay schielte verdächtig in unsere Richtung. Ein mattes Lächeln huschte mir über die Lippen.
„Wenn du nicht willst, dass ich dich fahre, dann kann ich auch Tay fragen oder einen der anderen Jungs.“, sagte Luan und ich war mir sicher, dass er den Namen ‚Tay‘ förmlich ausspuckte.
Ich schüttelte hastig den Kopf und nahm einen weiteren Schluck des warmen Kaffees.
„Nein, ich fände es sehr schön, wenn du mich fährst.“, meinte ich und hoffte, dass meine Wangen nicht so glühend rot waren, wie sie sich anfühlten. 

Ich wartete nach dem Unterricht vor der Schule auf den blonden Lockenkopf, der aus den Massen hervorstach. Ich erlitt ein heftiges Deja-Vu, als ich ihn endlich erblickte und glaubte kurzzeitig mich in der Vergangenheit zu verlieren. Ich ermahnte mich, mich zusammen zu reißen. Ich konnte nicht auf heile Welt tun aber genauso wenig durfte ich ihn abweisen. Ich trottete neben Luan über den Parkplatz. Er nahm weder meine Hand, noch legte er den Arm um mich. Im Nachhinein verstand ich, wie seine Geste wirklich gemeint war. Ich hatte ihm zwar am Anfang darauf aufmerksam gemacht, dass er nicht den Arm um mich legen sollte, aber bei unseren weiteren Treffen hatte mich das wenig interessiert. Viel mehr hatte ich mich in den Blicken der anderen gesonnt und es genossen beneidet zu werden. Nicht, dass ich das brauchte, aber es war einfach schon eine unglaublich lange Zeit her, dass irgendwer mal wegen irgendwas zu mir aufgesehen hatte. Ich hatte ihn schamlos ausgenutzt. Aber das Schlimmste daran war, dass ich es nicht einmal bemerkt hatte. Und am Ende hatte ich nicht nur Luan verletzt, sondern auch mich selbst.
Ich ließ mich auf den Beifahrersitz sinken, drückte den Kopf in die Lehne und sog den vertrauten Duft des Autos ein. Der Motor startete und schon war ich eingeschlafen.
Ich schlief wie eine Tote. Ich war weder aufgewacht, als Luan vor meinem Haus parkte, noch als er mich aus dem Auto zog, zu meinem Haus trug und mich anschließend bis nach oben zu meinem Zimmer brachte und mich auf mein Bett legte.
Ich spürte die Wärme meiner Decke und blinzelte dem schwindenden Tag entgegen. Ich schaute direkt in Luan’s verschlingende Augen. Er lächelte.
„Schlaf ruhig weiter.“, meinte er und strich die Decke auf mir glatt.
„Geh nicht.“, flüsterte ich und versank schon wieder im Traumland.
„Und was soll ich deiner Mutter sagen?“, fragte er und ich hörte das schiefe Grinsen auf seinen Lippen. Er wandte den Kopf zur Tür, wo meine Mutter mit verschränkten Armen stand und zufrieden lächelte.
„Ich mach das schon.“, sagte ich noch und schlief ein. Luan nickte meiner Mutter zu, woraufhin sie sein Nicken erwiderte und leise die Tür schloss. Luan ließ sich neben mein Bett sinken. Er saß einfach nur dort und wachte über mich während ich schlief. 

Als ich aufwachte starrte ich in die tiefe Schwärze meines Zimmers. Ich hatte keine Ahnung wie spät es war und nur langsam kamen die Erinnerungen zurück in meinen Kopf. Ich blickte mich hastig zu allen Seiten um, doch Luan war nicht mehr hier. Enttäuschung machte sich in mir breit. Aber was hatte ich denn auch erwartet?! Luan würde sicher nicht stundenlang in meinem Zimmer hocken und warten, bis ich wieder aufwachte. Ich drehte meinen Wecker um. 19:14 Uhr. Immer noch müde schob ich mich aus dem Bett und stakste sie Stufen hinunter in die Küche. Ich hätte zwar ohne weiteres einfach weiter schlafen können, aber mein knurrender Magen müsste nun erst einmal ruhig gestellt werden.
Schallendes Gelächter dröhnte mir aus der Küche entgegen. Und als ich diese betrat, bot sich mir ein Bild, das ich so noch nie gesehen hatte. Der kleine Esstisch war sorgsam gedeckt. Schüsseln mit verschiedenen Speisen bedeckten das dunkle Holz. Es roch wunderbar nach Frühlingsrollen.
„Da ist sie ja.“, strahlte meine Mutter mich an.
„Hast du gekocht?“, war meine erste Frage. Ich wusste nicht, was ich verwunderlicher fand. Die Tatsache, dass es lecker duftendes Essen gab oder, dass Luan am Esstisch saß und sich allen Anschein nach wunderbar mit meiner Mutter verstand.
„Nein nein, ich habe was kommen lassen.“, lachte sie und wandte sich belustigt zu Luan um. „Ich hoffe es war okay, dass ich deinen Freund kurzzeitig entführt habe.“, plapperte sie fröhlich weiter.
„Aber Mom…“, wollte ich sie berichtigen. „Ja, ja. Schon gut er ist nur ‚ein Freund‘.“, meinte sie und blamierte mich damit mal wieder total. Ich hätte mir am liebsten mit der flachen Hand an die Stirn geschlagen, aber ich unterdrückte den Drang danach.
„Komm setz dich.“, schob meine Mutter mich zu dem freien Stuhl neben Luan. Ich entschied mich, die Situation einfach zu ignorieren und schlang dankbar das Essen vom Lieferservice in mich hinein. Langsam verstand ich welche Vorzüge Luan durch mein tägliches Erscheinen bei ihm Zuhause genossen hatte. Ich könnte mich durchaus an das hier gewöhnen. Meine Mutter wäre sonst niemals auf die Idee gekommen etwas zu Essen zu bestellen. Aber trotz ihrer angeblichen Begabung zu Kochen, wollte sie diese Luan wohl doch nicht zumuten. 

    Ich war heilfroh, als Luan beschloss nach dem Abendessen endlich zu gehen. Nicht, dass ich ihn nicht mehr dahaben wollte, aber mit meiner Mutter dabei, befürchtete ich im Grunde nur noch mehr Peinlichkeiten, für die ich jetzt absolut keinen Nerv hatte.
„Tut mir leid, dass meine Mutter dich so vereinnahmt hat.“, knirschte ich, als Luan schon in der Tür stand. Die kühle Abendluft fühlte sich unfassbar schön an. Es war, als würde die laue Brise die Wolken in meinem Gehirn beiseite pusten.
„Ach, das war doch nichts.“, meinte er und ich wusste, er meinte es ehrlich. Ich musste zugeben, dass ich sehr an Luan mochte, dass er so ehrlich war und ich immer sofort wusste, ob er die Wahrheit sagte.
„Und danke fürs Nachhause fahren und nach oben tragen und so…“, meinte ich und konnte ihm dabei kaum in die Augen sehen, so unangenehm war mir das alles.
„Kein Problem.“, sagte er.
Ich lächelte ihn an. Eine Weile standen wir uns nur schweigend gegenüber.
„Ich geh dann mal.“, sagte er schließlich und nickte mir zum Abschied zu.
Ich war kurz davor die Tür zu schließen und meine Chance verstreichen zu lassen aber es waren wohl die Frühlingsrollen in meinem Bauch, die mich zu plötzlichen Handlungen motivierten.
„Luan warte!“, rief ich ihm nach. Er war noch nicht weit gekommen, drehte sich auf dem kleinen Weg durch unseren Vorgarten um und sah mich fragend an. Ich lief die paar Schritte über den kalten Boden auf ihn zu und schlang ihm einfach die Arme um den Hals. Ich drückte meinen Kopf an seine Schulter. Sofort durchzog mich eine angenehme Wärme und das vertraute Gefühl der Geborgenheit war zurück. Er schien etwas überrumpelt. Zögernd hob er die Hände und legte sie kaum merklich auf meinen Rücken. Doch es war mir egal, dass er meine Umarmung nicht mit voller Leidenschaft erwiderte.
„Es gibt so vieles, was ich dir gern sagen würde.“, sagte ich in den Stoff seiner Jacke hinein. Er legte seine Wange auf meinen Kopf und seine Umarmung wurde etwas fester.
„Nur im Moment ist nicht der Zeitpunkt dafür. Ich muss erst einmal mein Leben sortieren, bevor ich anfange darin wieder Chaos zu stiften.“, brachte ich hervor. Mein Hals schnürte sich zu und ich drohte jeden Augenblick in Tränen auszubrechen.
„Ich warte auf dich.“, hauchte er in die Nacht hinein und bereitete mir damit solch einen Gänsehautschauer, dass ich das Gefühl bekam das Bewusstsein zu verlieren.




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