Sonntag, 28. Dezember 2014

Piano Girl - Weihnachtsspecial

Dezember 2006

Das ganze Land war von einer dicken Schneedecke überzogen. Eisige Flocken tanzten in der Luft und wehten durch die kahlen Äste, die sich dem blauen Himmel empor reckten. Es roch nach Winter, nach Schnee und nach dem Rauch des Feuers, das in den Kaminen der Häuser entflammte und damit der frostigen Kälte entgegen wirkte. Der Schnee knirschte unter Kia’s Füßen, als sie sich ihren Weg durch die glitzernde Puderlandschaft bahnte. Sie hatte den Schal bis über die Nasenspitze gezogen, die Hände tief in den Taschen vergraben und klapperte vor Kälte mit den Zähnen. Endlich im wohlig warmen Heim angekommen, warf sie ihren Mantel auf den Boden, schüttelte ihre Schuhe von den Füßen und eilte die Treppe nach oben in ihr Zimmer.
„Du sollst doch deinen Mantel an den Haken hängen.“, rief Suna ihrer Tochter aus dem Flur zu. Kopfschüttelnd räumte sie Kia’s Winterkleidung auf und folgte ihr in das obere Stockwerk des Hauses.
„Zieh bitte das Kleid an, was ich dir rausgesucht habe. Maeng und Gemma sind jede Minute hier.“, meinte Suna, als sie das Zimmer ihrer Tochter betrat. Kia lag auf dem flauschigen Langflorteppich auf dem Boden und blätterte eifrig in einem Comicheft.
„Kia!“, ermahnte ihre Mutter sie.
Widerwillig stöhnte Kia und stierte Suna böse an.
„Ich will das Kleid nicht anziehen.“, protestierte sie.
In diesem Moment läutete die Türklingel.
„Du ziehst dieses Kleid an, oder du hast Hausarrest. Dann war’s das mit deinen Treffen mit Tay.“, sagte Suna böse. Sie drehte sich um und hastete die Stufen nach unten, um die Tür zu öffnen.
Wütend zog Kia das rote Samtkleid an, welches Suna an ihren Kleiderschrank gehängt hatte. Sie stapfte die Treppe hinunter und schaute in die stumpfen Gesichter von Maeng und Gemma. Maeng wie immer in weißer Bluse mit teurem Blazer und glänzen Schuhen und Gemma das Abbild ihrer peniblen Mutter mit Lackschuhen, Seidenkleid und einem Haarreif auf den perfekt glatten und glänzenden Haaren.
„Kia! Wie siehst du nur aus. Hättest du dir nicht wenigstens einmal die Haare bürsten können.“, blaffte ihre Mutter, als sie das Ende der mit Teppich ausgelegten Treppe erreichte. Maeng warf ihr einen hochnäsigen Blick zu und schob dann Gemma vor sich her Richtung Esszimmer, wo Suna in den letzten Stunden eine leckere Sahnetorte vorbereitet hatte.
„Gemma hat ja solche Fortschritte gemacht. Pavlo sagt die Geige ist wie für sie geschaffen.“, textete Maeng in ihrer hohen schwingenden Stimme.
„Ich wünschte ich könnte das gleiche von meiner Kia behaupten. Sie tut sich ziemlich schwer.“, meinte Suna und schaute verlegen auf den Boden.
Gemma hatte sich an den Tisch gesetzt. Sie hatte die Hände vor sich auf den Tisch gefaltet und schaute sich im Raum um. Doch Kia erkannte, dass sie sich nicht wirklich für die Umgebung interessierte, sondern lediglich ab und an die Nase rümpfte oder ihrer Mutter schweigend zustimmte.
„Kia, zeig uns doch einmal das Stück aus der letzten Stunde.“, verlangte Maeng. Kia verschränkte die Arme vor der Brust. Suna stierte sie wütend an und gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass sie besser die Geige nahm und anfing zu spielen, wenn ihr ihr Leben lieb war.
Kia nahm die Geige, platzierte sie auf ihrer Schulter und spielte den ersten Ton.
„Nein, nein. Falsch, falsch!“, unterbrach Maeng sie sofort. „Du musst die Geige streichen und nicht kratzen.“
Erneut setzte Kia zum ersten Ton an.
„Also so wird das aber nichts, meine Liebe.“, zeterte Maeng.
Wütend ließ Kia die Geige auf den Boden fallen. Ihre Mutter japste auf, Gemma starrte sie regungslos an und Maeng schüttelte missbilligend den Kopf.
„Nun ja, Talent wird eben nicht jedem in die Wiege gelegt.“, stellte sie fest.
Suna eilte auf Kia zu, doch diese wich ihrer Mutter aus, rannte zum Flur, riss ihre Jacke vom Haken und schlug die Tür hinter sich ins Schloss.
Die eisige Kälte brannte in ihren Lungen, als sie durch die weißen Straßen lief, in denen eine bedrückende Stille herrschte. Sie war sich sicher, ihre Mutter würde ihr nicht nachkommen und so verlangsamte sie schon bald ihr Tempo. Sie war zu wütend um zu weinen. Sie war verletzt. Nicht Maeng’s Worte waren es, die sich wie Eiszapfen in ihr Herz bohrten, sondern die traurigen Blicke ihrer Mutter, wenn sie Maeng zustimmte und sich für ihre eigene Tochter zu schämen schien.
    Es gab Nächte, da lag Kia lange wach. Dachte daran, wie es wäre, wenn sie mehr wie Gemma war. Sie wollte, dass ihre Mutter stolz auf sie war. Aber, was sie auch versuchte, sie konnte nicht wie Gemma sein und je mehr sie es versuchte, um so weniger klappte es. Sie hasste Gemma so sehr, dass sie schon ein schlechtes Gewissen bekam und manchmal dafür betete, dass ihr nichts geschehen würde, auch wenn Kia sich oft das Gegenteil wünschte.
Kia erreichte den kleinen Park nahe der Grundschule. Weit und breit war kein einziger Mensch zu sehen. Die Stadt schien im Winter oft wie ausgestorben zu sein.
Sie erreichte das kleine Baumhaus, das Tay mit seinem Vater im Sommer gebaut hatte. Sie kletterte die Leiter hinauf und atmete die vertraute Luft des Holzes ein. Es war eiskalt im Baumhaus. Sie legte sich einige Decken um den Körper und kauerte sich auf den Boden vor das Fenster. 
Ein leises Quietschen riss Kia aus ihrem Schlaf. Ein dunkler Schopf Haare wurde durch den Türspalt gesteckt. Neugierig spähten ein Paar braune Augen in das Innere und begutachteten eine verträumte Kia, die sich den Schlaf aus den müden Augen rieb.
„Dachte ich mir doch, dass du hier bist.“, meinte Tay und verschloss die Tür hinter sich.
„Deine Mutter hat bei uns angerufen und gesagt, dass du weggelaufen bist.“, erklärte er und ließ sich auf den Boden vor dem kleinen elektronischen Keyboard nieder. Er drehte es um, zog ein Paar Batterien aus seiner Jackentasche und steckte sie hinein.
Sobald Tay begann die Tasten zu drücken, war Kia’s Kummer wie weggeblasen. Sie liebte seine fröhlichen Melodien und schaute nur zu gern dabei  zu, wie seine Finger über das Keyboard tanzten.
„Hast du das Stück neu gelernt?“, fragte sie ihn und rutschte über den Boden zu ihm heran.
Tay nickte und schmunzelte. Er wusste nur zu gut, wie er Kia aufmuntern konnte.
„Ich wünschte ich könnte auch Klavier spielen.“, seufzte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Tay unterbrach sein Spiel. Einige Sekunden herrschte Stille.
„Du weißt doch gar nicht ob du spielen kannst.“, meinte er und schielte zu ihr hinunter.
„Ich kann nicht einmal Geige spielen. Ich würde sagen, ich bin musikalisch ziemlich unbegabt.“, sagte sie matt.
„Hier.“, sagte Tay und drückte Kia sein Notenheft entgegen. „Behalte es ruhig.“, fügte er hinzu. Zögernd nahm sie das Heft entgegen.
„Brauchst du es nicht?“, fragte sie.
Tay schüttelte den Kopf. „Ich habe schon alle Stücke durch.“, beteuerte er.

Wann immer Kia Zeit fand, besuchte sie das eisige Baumhaus im Park. Sie studierte die Notenblätter, die Tay ihr überlassen hatte und wagte sogar erste Versuche das Keyboard zu spielen. Noten lesen konnte sie. Auch wenn sie nicht gut mit der Geige war, war ihr das Noten lernen nie schwer gefallen. Es war ein eigenartiges Gefühl die Finger auf die kühlen schwarzen und weißen Tasten zu legen. Es dauerte eine Weile, da erkannte sie die ersten Lieder wieder. Allerdings klang es nicht halb so gut, wie wenn Tay spielte.
Doch obwohl es nicht perfekt war, verspürte sie nicht den Drang danach aufzugeben. Nein ganz im Gegenteil war sie motivierter denn je. Sie wollte spielen und spielen, bis es so gut klang wie bei Tay. Sie hatte das eigenartige Wissen, dass sie es erreichen konnte. Vorher hatte sie lange versucht Geigenstücke auf dem Niveau von Gemma zu spielen und war daran kläglich gescheitert. Doch diesmal schien es etwas anderes zu sein. Sie empfand tatsächlich Freude beim Spielen. Vielleicht lag es nur daran, dass sie nicht unter dem Zwang ihrer Mutter und unter der Beobachtung des Musiklehrers stand. Pavlo war zwar ein begnadeter Lehrer, doch Kia hatte von Anfang an eine Art Abneigung verspürt. Er hatte weder sie noch Gemma bevorzugt, er war immer fair, hatte Geduld und man konnte seine Leidenschaft förmlich sehen. Seine Augen glühten und funkelten, wenn er die Geige auf seine Schulter legte und mit dem Bogen über die Saiten strich.
Es war das gleiche Funkeln, das auch Tay in den Augen hatte, wenn er Klavier spielte. Das war es, was Kia immer wollte. Sie wollte nicht gut sein, oder zumindest nicht besser, als irgendwer anderes. Sie wollte nur das Funkeln haben, das unweigerliche Leuchten, die Freude und die Zufriedenheit. Sie war sich sicher, dass Suna stolz auf die wäre, wenn sie beim Spielen strahlen würde. Auch, wenn Maeng das wahrscheinlich ganz anders sah. Bei diesem Gedanken fiel ihr auf, dass auch Gemma das Leuchten in den Augen hatte. Und sofort schien sie zu wissen, warum ihr das Geigespielen so lag und sie selbst sich dermaßen schwer tat. Sie war nicht bei der Sache und wenn sie ehrlich war, dann hasste sie nicht nur die Unterrichtsstunden mit Gemma, sondern die Geige im allgemeinen. Nicht, dass es nicht schön klang - doch für sie selbst war es einfach das falsche Instrument.


Weihnachten 2006

Suna hängte gerade die letzten Ornamente an den reich geschmückten Weihnachtsbaum. Bunte Kugeln in den verschiedensten Farben reflektierten das Licht der Lichterkette und funkelten mit einem warmen und einladenden Glanz. Auf der Spitze der großen Tanne, die sich beinah bis zur Decke des Wohnzimmers erstreckte, prangte ein silberner Stern.
„Bist du fertig?“, rief Suna ihrer Tochter zu, die in diesem Moment die Treppe hinunter gelaufen kam.
„Ich muss noch einmal weg.“, meinte sie, griff nach ihrem Mantel und wollte das Haus verlassen.
„Warte!“, hielt Suna sie auf, bevor sie aus der Tür stürmen konnte. „Wo willst du denn jetzt noch hin?“, fragte sie und schaute Kia verblüfft an.
„Ich muss zu Tay.“, entgegnete diese und wickelte sich den Schal um den Hals.
„Jetzt noch? Wir wollen doch gleich Kuchen essen. Dein Vater müsste auch gleich hier sein.“, versuchte sie Kia zu überzeugen.
Doch sie schüttelte nur hastig den Kopf, riss die Haustür auf und lief in die weiße Winterwelt hinaus. „Dauert auch nicht lange.“, rief sie ihrer Mutter über die Schulter zu und eilte los.
    Schneeflocken tanzten in der Luft und bahnten sich ihren Weg auf die Erde, wo sie zu einer dicken, flauschigen Decke wurden.
Tay wartete bereits vor dem großen Baum, in dem sich das Baumhaus befand. Er lief wartend auf und ab. Die Hände tief in den Taschen vergraben, die Mütze in die Stirn gezogen. Er sah aus wie ein kleiner, runder Ball. Als er Kia erblickte, lächelte er sie freudestrahlend an. Er winkte mit seinen Fausthandschuhen und sprang auf und ab.
„Endlich!“, prustete er, als Kia keuchend vor ihm anhielt. „Meine Mutter war gar nicht begeistert.“, erklärte er und verdrehte die Augen.
„Meine auch nicht.“, grinste Kia. „Aber ich muss es erst dir zeigen.“, meinte sie und kletterte vorsichtig die Leiter zum Baumhaus hinauf.
„Sei vorsichtig! Die Sprossen sind bestimmt gefroren.“, meinte Tay und eiferte ihr sofort nach.
Kia setzte sich vor das kleine Keyboard. Sie streckte ihre Hände aus und Tay reichte ihr ein neues Paar Batterien, welches sie behutsam in das dafür vorgesehene Fach schob. Sofort glimmte die kleine Lampe rot auf. Sie nahm das Notenheft, stellte es auf den Ständer und blätterte eine der hinteren Seiten auf. Währenddessen hatte es sich Tay auf einer Decke bequem gemacht. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtete das Treiben vor sich.
„Warte noch kurz.“, meinte Kia. Sie starrte auf die Tasten und drückte wahllos einige davon herunter.
„Das klingt aber nicht so toll.“, witzelte Tay.
Wütend fuhr Kia herum und stierte ihn an. „Ich hatte doch auch gesagt du sollst kurz noch warten.“, blaffte sie ihn an.
Tay lachte nur.
„Ich bin eben nervös.“, meinte Kia schließlich.
„Wieso denn das?“, wollte Tay wissen.
„Dass ich schlecht bin und du mich auslachst.“, erwiderte sie und senkte den Kopf.
„Als ob ich dich auslachen würde.“, sagte Tay erstaunt.
„Ich weiß ja, aber wenn immer ich vor meiner Mutter und Maeng gespielt habe, war ich nicht gut genug.“
Die Anspannung saß in ihren Knochen. Sie hatte so viel gelernt und gespielt, dass sie fast das gesamte Heft an Liedern spielen konnte. Doch es war etwas anderes nur für sich selbst zu spielen. Jetzt saß Tay hier. Derjenige, der all diese Lieder perfekt beherrschte und der sicher hören würde, wenn sie einen Fehler machen würde. Sie wollte sich selbst und ihm beweisen, dass sie etwas konnte, wenn sie an sich selbst glaubte. Auch wenn es bis jetzt immer den Anschein gehabt hatte, dass sie erst nach Gemma kam, glaubte Kia etwas gefunden zu haben, in dem sie besser war als sie. Und endlich würde ihre Mutter sie anerkennen. Und auch Maeng würde verblüfft gucken und vor Neid ganz blass werden, weil ihre ach so perfekte Tochter einmal etwas nicht konnte, was Kia konnte.
Kia biss die Zähne zusammen. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und legte ihre Finger auf die Tasten. Dann begann sie zu spielen. Sie summte das Lied in ihrem Kopf, verfolgte die kleinen schwarzen Punkte auf dem Papier und brachte sie zum Ertönen.
„Wow.“, hauchte Tay, als das Stück zu ende war.
„War das okay?“, wollte Kia wissen.
„Das war unglaublich.“, meinte er und rutschte über den Boden näher an sie heran. „Wie oft bist du denn hier gewesen, dass du das plötzlich kannst.“, fragte er.
Kia zuckte mit den Schultern. „Hin und wieder.“, sagte sie beiläufig und freute sich über Tay’s Kompliment.
„Du musst das unbedingt deiner Mutter vorspielen.“, meinte er.
„Meinst du?“, fragte Kia zögernd.
Tay nickte kräftig. „Unbedingt!“
„Es wäre so schön, wenn sie mich dann nicht mehr zum Geigespielen zwingt.“, meinte Kia etwas traurig. Sie schaltete das Keyboard wieder aus. Gemeinsam verließen Tay und sie das Baumhaus. Auf dem Sandweg sollten sich ihre Wege wieder trennen.
„Wenn deine Mutter jetzt nicht kapiert, dass die Geige nichts für dich ist, komme ich persönlich vorbei und werfe sie in euren Kamin.“, sagte Tay und gestikulierte dabei mit den Händen in der Luft herum. Er deutete an, wie die Geige im Feuer mit einer großen Stichflamme verbrannte. Zufrieden grinste er sie an.
„Danke, Tay.“, meinte Kia.
„Wofür?“, wollte Tay überrascht wissen.
„Dafür, dass du mein bester Freund bist. Und dass du mir gezeigt hast, dass ich doch kein musikalisches Wrack bin.“, sagte sie und schlang dem dick eingepackten Tay die Arme und den Körper. 


... Fortsetzung folgt.


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Samstag, 20. Dezember 2014

Piano Girl - Im Herzen spielt die Musik - KAPITEL 2

Ich schlief diesen Samstag ziemlich lange. Ich drehte mich unter meiner Decke immer wieder hin und her. Ich hatte einfach keine Lust aufzustehen und wahrscheinlich mit meiner Mutter über das Konzert sprechen zu müssen.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
„Bist du schon wach?“, fragte meine Mutter durch das Holz hindurch.
Ich grummelte irgendetwas Unverständliches woraufhin sie die Tür öffnete. Sie trat ins Zimmer. Wie immer hatte sie ihr teils ergrautes Haar zu einem wirren Zopf nach oben gebunden. Sie trug ihr Backschürze, die mit Mehl und anderen Flecken beschmutzt war.
„Maeng kommt heute zu Besuch. Ich habe Kuchen gebacken.“, sagte sie.
„Ich bin später nicht da.“, sagte ich automatisch. Ich hatte keine Lust auf Maeng. Sie war zwar die beste Freundin meiner Mutter, aber das hieß noch lange nicht, dass sie auch zu mir einen freundlichen Umgang pflegte. Ihren wertenden Blick konnte ich heute einfach nicht ertragen.
Meine Mutter schaute mich verdutzt an.
Ich grinste und quälte mich schließlich aus dem Bett, um ihr zu bedeuten, dass ich mich nun fertig machen musste. Etwas geknickt trat sie den Rückzug an. Erleichtert ließ ich mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen. Ich zog mir irgendetwas an, nahm mir meinen I-Pod und verließ das Haus auf dem schnellsten Weg. Das Wetter draußen war nicht gerade einladend, aber ich genoss es dafür umso mehr. Die Temperaturen waren endlich etwas runtergegangen. Dichte Wolken verdeckten die Sonne und die Luft roch wunderbar nach Winter. Ich setzte meine Kopfhörer auf, schaltete ein Lied ein und drehte die Lautstärke hoch. Es gab nichts Schöneres, als an so einem Tag die Musik zu genießen und einfach glücklich zu sein. Ich hatte wirklich das plötzliche Gefühl von Glückseligkeit. Es war doch immer wieder erstaunlich, was Musik in mir auslösen konnte. Die Melodie berührte mein Herz und meine Seele. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht durch die Straßen zog, sodass mich die anderen Leute seltsam beäugten. Aber es störte mich nicht. Ich lief durch den Park Richtung Stadtmitte. Hier waren die Straßen voll von bunt gekleideten Menschen, die Einkaufen waren, in den Cafés saßen oder mit der Familie einen Ausflug machten. Ich stand gerade an der Ampel, da entdeckte ich ein Geschäft, das ich vorher noch nicht gesehen hatte. Ziemlich verwinkelt machte ein kleines braunes Schild auf ein Musikgeschäft aufmerksam, das sich allen Anschein nach im oberen Teil des Bürogebäudes befand. Wie ein Magnet wurde ich von dem Schild angezogen. Ich zögerte kurz ehe ich die Glastür öffnete und in das beheizte Treppenhaus gelangte. Ich setzte meine Kopfhörer ab und stieg die weißen Stufen nach oben. Das braune Schild war auf jeder Etage angebracht und zeigte mit einem kleinen Pfeil die Treppen hinauf.
   Im 5. Stock war eine Metalltür weit geöffnet. Das Schild zeigte direkt darauf. Durch das Fenster im Treppenhaus konnte ich die gesamte Stadt überblicken. Ich sah die hohen Gebäude, den Fernsehturm und sogar die Turmspitze des Schulgebäudes.
Das Geschäft war größer, als ich zunächst angenommen hatte. Direkt am Eingang waren die Streichinstrumente sorgfältig in Reihen aufgestellt. Zur Linken erstreckte sich eine Art Aufenthaltsraum direkt neben der Kasse, an der ein älterer Mann gerade damit beschäftigt war neue Kleingeldrollen zu öffnen. Zur Rechten folgten nach den Streichinstrumenten die Blasinstrumente. Und wenn man geradeaus blickte, schien sich das Geschäft in kleine verwinkelte Räume zu erstrecken. Ich wanderte durch die Reihen. Tatsächlich waren im Geschäft mehrere Schalldichte Räume aufgebaut, die allesamt aus dicken Glaswänden bestanden, durch die man in das Innere schauen konnte. Im ersten Raum entdeckte ich E-Gitarren mit Verstärkern. Dahinter waren Schlagzeuge und schließlich gab es einen gigantischen Raum im hinteren Teil des Geschäftes, in dem Klaviere und Flügel standen. Auch eine beträchtliche Summe von Notenblättern war hier akkurat in dunkle Holzregale sortiert. Es war kaum jemand im ganzen Laden. Ich schaute mich vorsichtig zu allen Seiten um und trat dann näher an einen wunderschönen Flügel heran. Er war weiß lackiert und mit allerlei goldenen Schnörkeln verziert. Es war ein seltsames Gefühl so nah an einem Klavier zu stehen. Ich wäre am liebsten sofort wieder umgedreht und hätte den Laden so schnell wie möglich verlassen. Aber irgendetwas hielt mich davon ab. Ich schien förmlich am Boden festzukleben.
„Er ist schön, nicht wahr?!“, sagte plötzlich jemand hinter mir. Ich fuhr unmerklich zusammen. Ich hatte ihn schon an seiner Stimme erkannt und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich nickte also nur zustimmend und blieb auf meinem Platz stehen.
Tay trat näher an mich heran. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, dass er wie auch die anderen Tage eine dunkle enge Hose trug.
„Willst du nicht spielen?“, fragte er schließlich.
Ich schüttelte hastig den Kopf.
„Die Tasten sind alle mit der Hand gefertigt. Und die Verzierungen sind mit Blattgold eingefasst.“, erklärte er.
„Muss ganz schön teuer sein.“, sagte ich.
„Der Flügel steht nicht zum Verkauf.“, meinte Tay gelassen. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben.
„Wieso steht er dann hier?“, wollte ich wissen und blickte ihn an. Tay trug ein braunes Shirt, genau so eins, wie der Mann an der Kasse getragen hatte.
„Damit sich Musikliebhaber daran erfreuen können. Der Besitzer fand es verschwendet, dass der Flügel nur bei ihm Zuhause stand und von niemandem gesehen werden konnte. So kann Jeder einmal das wunderbare Gefühl bekommen ein solchen Flügel zu spielen.“ Freude hatte sich in sein Gesicht geschlichen.
„Arbeitest du hier?“, fragte ich dann.
Irgendwie war die Situation seltsam. Er redete mit mir, als würde er mich kennen. Und obwohl er das ja auch tat, hatte sich etwas zwischen uns entfremdet, das gerade in diesem Moment wie weggewischt schien.
Er nickte und lachte amüsiert.
„Tay?! Was machst du denn hier hinten?“, unterbrach uns eine tiefe Stimme.
„Wo wir gerade von Besitzer sprechen.“, lachte er und drehte sich um. Der Mann von der Kasse war zu uns getreten und schaute neugierig von Tay zu mir und wieder zurück. 
„Na, junge Dame. Willst du auch mal den Wunderflügel spielen?“ fragte er mit einem breiten freundlichen Grinsen im Gesicht. Er hatte etwas so Herzerwärmendes, dass ich gleich ein schlechtes Gewissen bekam Nein zu sagen.
„Nein, nein.“, beteuerte ich und wehrte mit den Händen ab. Ich schaute zu Tay hinauf. Er hatte seinen Blick auf seinen Chef geheftet.
„Verstehe.“, meinte dieser und zwinkerte mir zu. Verwirrt schaute ich ihn an. Dann warf er Tay einen verschwörerischen Blick zu.
„Ich brauch’ dich gleich vorne.“, rief er ihm im Gehen zu.
„Ich geh’ dann besser mal.“, meinte ich und trottete dem Chef nach, da ich Tay nicht unnötig von der Arbeit abhalten wollte. Ich hatte mich ohnehin schon eine Ewigkeit hier aufgehalten.
„Kia!“, rief mir Tay nach. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Mein Herz zog sich zusammen und das Blut in meinen Adern gefror. Langsam drehte ich mich um.
„Hast du später noch was vor?“, fragte er und sah mich durchdringend an.
Ich schüttelte sprachlos den Kopf.
„Ich hab’ um 19 Uhr Schluss. Ich würde dir dann gern was zeigen.“, sagte er. Seine Stimme war so ruhig und melodisch, dass ich auf der Stelle hätte einschlafen können.
Ich nickte stumm und wand mich zum Gehen. Etwas perplex stolperte ich durch das Geschäft und zum Ausgang. Ich verabschiedete mich vom grinsenden Chef und stieg die endlosen Treppen hinab. Draußen ließ ich mich erst einmal gegen das Glas sinken. Ich atmete tief ein und aus und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen.
Tay wusste noch wer ich war. Er hatte meinen Namen gesagt. Nicht, dass das unter normalen Umständen etwas Besonderes gewesen wäre, aber Tay war eben Tay.
    Er hatte mich jeden Tag von Zuhause abgeholt. Er war der Erste, der mich hatte spielen hören. Niemand sonst durfte das. Er war immer für mich da gewesen, er hatte mich unterstützt und mir geholfen. Er war wie eine Inspiration für mich und wie ein Antrieb. Wenn ich einmal geglaubt hatte ein Stück niemals zu beherrschen, hatte Tay mir gezeigt, dass ich es doch kann. Durch ihn hatte ich überhaupt angefangen zu spielen. Er war es, der mir die wunderbare Welt des Klaviers geöffnet hatte. Ihn jetzt zu sehen, war wie Verrat. Ich konnte mich nicht mehr wirklich daran erinnern, warum genau wir uns irgendwann nichts mehr zu sagen hatten, uns auf den Fluren ignorierten und nie mehr zusammen gespielt hatten.
Ich fühlte mich so unglaublich verloren, so als würde ich ihn enttäuschen, wenn ich jetzt aufgab. Aber auch er war es gewesen, der mir unterbreitet hatte immer alles nur für mich zu tun und für niemanden sonst.

Nach einer Weile machte ich mich auf den Weg zu einer Imbissbude. Ich hatte heute noch nichts gegessen und mein Magen knurrte, um mich daran zu erinnern.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch eine Weile Zeit hatte, bis Tay Feierabend hatte. Ich versuchte inständig nicht daran zu denken, da ich ein unheimliches Kribbeln in meiner Magengegend verspürte, je mehr Minuten verstrichen. Schließlich fing ich sogar an nervös mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte zu trommeln, während ich mein Sandwich förmlich in mich hineinschlang.
Mein Handy vibrierte in meiner Tasche und ließ mich zusammen fahren. Ich schaute mich schnell zu allen Seiten um, aber niemand schien mich zu beachten.
Inna hatte mir geschrieben. Sie fragte wo ich war. Ich überlegte kurz, was ich antworten sollte. Ich hasste lügen, aber die Wahrheit war momentan nicht gerade eine Option.
„Ich bin gerade etwas essen.“, schrieb ich eifrig zurück.
„Später noch Zeit?“, fragte sie in ihrer nächsten Nachricht. Genervt warf ich den Kopf in den Nacken.
„Tschuldige, bin heute ziemlich beschäftigt. Ich schreibe dir morgen.“, antwortete ich schließlich und schaltete mein Handy in den Flugmodus. Ich atmete erleichtert aus und beobachtete die Menschen in dem kleinen Lokal, in dem ich saß. 

Kurz vor 19Uhr verließ ich das Lokal. Ich ging die paar Meter zurück zu dem versteckten Musikgeschäft und lehnte mich gegen die Glasscheibe. Mein Bauch rumorte, meine Hände zitterten und mir wurde eiskalt. Dinge, die ich immer beobachten konnte, sobald ich nervös wurde. Nur war das in dieser Form schon lange nicht mehr vorgekommen.
Ich hörte hinter mir jemanden die Treppe hinunterkommen. Ich kniff die Augen zusammen und zwang mich, mich nicht umzudrehen. Die Tür schwang auf, mein Herz blieb stehen.
„Hey.“, sagte Tay.
Eine Art von Erleichterung durchzog meinen Körper. Obgleich meine Anspannung aber nicht komplett wegging.
Ich lächelte ihn schüchtern an.
„Komm mit!“, sagte er und nickte in Richtung Straße. Er hatte einen wolligen Schal um den Hals geschlungen und seine Hände tief in die Taschen geschoben. Ich zögerte eine Sekunde und folgte ihm dann die Straße hinunter. Es hatte bereits zu Dämmern angefangen. Der graue Himmel war von roten und orangenen Streifen durchzogen, die das Untergehen der Sonne ankündigten.
„Hattest du noch einen schönen Tag?“, fragte Tay und durchbrach damit die anstrengende Stille, die zwischen uns geherrscht hatte.
Ich nickte. „Und war die Arbeit noch gut?“, wollte ich dann wissen.
„Ja. Wer würde es nicht lieben den ganzen Tag von Musik umgeben zu sein.“, lachte er.
Ich war mir sicher einen Hauch Sarkasmus aus seiner Antwort heraus zu hören, fragte aber nicht weiter nach.
„Mein Chef, also der Besitzer vom Laden - er ist einfach klasse. Er versteht so viel von den Instrumenten. In den meisten Musikgeschäften wollen sie dir einfach nur das Teuerste andrehen. Hauptsache Geld. Aber Mr. Jung…“, sagte er und seufzte.
„Das ist gut.“, sagte ich knapp. Ich fühlte mich total unwohl und wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Er hat mir auch bei der Auswahl meiner Gitarre geholfen. So kam ich überhaupt dazu dort zu arbeiten.“, erzählte Tay weiter und ich war froh darüber.
„Ich spiele ja nicht besonders gut, deswegen musste meine Stimme herhalten. Aber die Rolle des Keyboarders war ja schon besetzt, als Kien mit der Bandidee kam. Wobei ich auch glaube, dass er der Bessere für diese Aufgabe ist. Es ist wohl doch ganz gut so, wie es ist.“, meinte er.
„Und das ist jetzt so dein Ding?“, fragte ich und merkte selbst wie bescheuert diese Frage klang. Wie ein Elternteil, das versuchte mit Slang an sein Kind heran zu kommen.
Fragend blickte er mich an.
„Rockmusik und so.“, meinte ich und wich seinem Blick aus.
„Könnte man so sagen.“, sagte er lachend.
Als ich nichts mehr sagte fuhr er fort: „Wieso fragst du?“
„Naja…“, begann ich meinen Satz und suchte nach den richtigen Worten. „Du warst früher anders und es ist einfach so seltsam dich plötzlich so zu sehen.“, stammelte ich.
„Mich wie zu sehen?“, hakte Tay nach.
„Na so!“, meinte ich und fuchtelte mit meinen Händen durch die Gegend, während ich auf seinen Look aufmerksam machen wollte.
Erneut lachte er. „Du hast mich nur lange nicht gesehen. Deswegen hast du den Prozess nicht schleichend miterlebt sondern alles von Null auf Hundert gesehen.“
Ich nickte daraufhin. Wir bogen in einen Park ein, den ich als den Park erkannte, der bei meiner früheren Grundschule lag.
„Veränderungen sind gut.“, sagte er.
„Nicht immer.“, sagte ich bitter und schaute geknickt auf meine Hände hinab. Tay bemerkte meinen Blick.
„Vielleicht nicht offensichtlich. Aber in jeder Veränderung steckt etwas Gutes. Man muss es nur finden.“, fügte er hinzu.
„Das sagen sich dann die Verlierer.“, gab ich zurück.
Tay schwieg. Eine Weile liefen wir einfach nur nebeneinander her und starrten beide auf den Sandweg, der unter unseren Füßen knirschte.
„Wir sind da.“, sagte er schließlich. Ich blieb stehen und schaute auf den Baum, der sich vor uns in den Himmel erhob.
„Es ist noch da?“, fragte ich staunend, als ich das Baumhaus erblickte. Zwischen Ästen und Blättern versteckt, aber dennoch deutlich zu erkennen. Die Holzplatten waren von Moos bewachsen und schienen schon etwas modrig zu sein.
Tay blickte sich zu allen Seiten um und schritt zu der Holzleiter, die am Baum angebracht war. Ich ballte meine Hände vorsichtig zu Fäusten und erwartete eigentlich schon, dass sich ein stechender Schmerz hindurch ziehen würde, doch nichts geschah.
Ich lief über das Gras, welches von Laub bedeckt war und kletterte Tay hinterher die Leiter hinauf. Er zog einen Schlüssel aus seiner Jackentasche und machte sich am Schloss des Baumhauses zu schaffen.
„Das Schloss gab es aber früher nicht.“, merkte ich an.
„Früher musste man das Baumhaus auch nicht beschützen.“, grinste er.
Er schloss die Tür auf und bedeutete mir, hinein zu gehen. Als ich im Raum stand, knipste er das Licht an. Alles sah noch fast genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte.
Vor dem großen Fenster, dessen Scheiben nicht mehr zerbrochen waren, lagen einige Decken. In der Ecke lagen mehrere Stapel Notenblätter und an der Wand stand das kleine Klavier, auf dem ich damals zum allerersten Mal gespielt hatte.
„Aber wie ist das möglich?“, fragte ich und schaute mich ungläubig um.
„Mein Park. Mein Baumhaus.“, sagte er lässig.
Ich hatte glatt vergessen, dass der Park Tay’s Familie gehörte. Es war nie etwas gewesen, auf dem er rumgeritten war und daher war es mir wohl auch nie wirklich bewusst gewesen.
„Willst du spielen?“, fragte er und zeigte mit dem Finger auf das Klavier. „Es funktioniert noch super. Ich habe mir alle Mühe gegeben und es in Stand gehalten.“
Ich sah ihn etwas geknickt an und schüttelte den Kopf. Ich stellte mich an das Fenster und schaute durch Äste und Blätter in den dunklen Park hinein.
Tay trat neben mich.
„Also ist es wahr, was alle sagen?“, fragte er. „Du spielst nicht mehr?!“
Ich antwortete nicht. Er lachte bitter.
„Was hat diese Schule nur aus dir gemacht?“, fragte er mehr sich selbst als mich. Fragend schaute ich ihn an, da ich nicht verstand, worauf er hinaus wollte.
„Erklär’s mir! Warum willst du nicht mehr spielen?“, fragte er und wurde etwas aufbrausend. So kannte ich ihn gar nicht.
„Weil ich nicht mehr so spielen kann wie vorher.“, meinte ich matt.
„Ist das dein ernst?“, fuhr er mich an. Erschrocken wich ich etwas zurück. Er stierte mich mit seinen dunklen Augen an. Das schummrige Licht der einzelnen Glühbirne warf tiefe Schatten in sein Gesicht.
„Wen interessiert es denn, ob du so spielen kannst, wie vorher?!“
„Mich! Was habe ich denn davon, wenn ich nicht mehr so gut bin wie vorher. Da kann ich es auch gleich sein lassen.“, fauchte ich zurück. Ich war diese Diskussionen so satt. Schon tausende Male hatte ich meiner Mutter genau das gleiche gesagt.
„Wieso darfst du bestimmen was ‚gut‘ ist und was nicht. Seit wir auf die Prideston gekommen sind, bist du schon so.“
„Wie bin ich denn?“, wollte ich wütend wissen.
„So verdammt… arrogant.“, spuckte er aus.
Verdattert schaute ich ihn an. „Wie bitte?!“, hauchte ich.
„Plötzlich bist du das Ausnahmetalent. Plötzlich brauchst du einen privaten Lehrer. Hast keine Zeit mehr für mich oder für sonst jemanden von deinen Freunden. Als du angefangen hast zu spielen, da ging es dir um das Gefühl. Du hast so glücklich ausgesehen, wenn immer du gespielt hast. Und du konntest die Menschen mit deiner Freude anstecken. Aber irgendwann wurdest du kalt und das Lächeln auf deinem Gesicht war verschwunden. Hast du dich nie gefragt, warum es keine Willkommensparty für dich gab? Warum dich nie jemand besucht hat?“, schrie er.
Ich war sprachlos. Ich verstand nicht, was gerade vor sich ging.
„Du bist zu einem Roboter geworden, der es sich zur Aufgabe gemacht hat ein Lied nach dem nächsten in seinen Kopf zu hämmern. Dir geht es doch gar nicht mehr um die Musik sondern nur darum für etwas Anerkennung zu bekommen. Deswegen fragst du auch ob Rockmusik jetzt ‚mein Ding‘ ist. Es ist doch egal was für eine Art von Musik, solange man sie für sich spielt. Lausche der Musik und lasse sie in dein Herz. Hast du das etwa vergessen?“
Ich hatte es nicht vergessen. Aber ich fand es war etwas, das diejenigen zu sich sagten, die nicht das Können hatten um Großes zu erreichen.
Ich schluckte den schweren Kloß in meinem Hals hinunter und wandte mich zum Gehen.
„Weißt du was?!“, fragte Tay, als ich schon in der Tür stand. Ich drehte mich zu ihm um und schaute ihn gleichgültig an.
„Ich bin echt froh, dass du diesen Unfall hattest. Vielleicht findest du jetzt mal wieder zurück zur Musik und vielleicht lässt du sie auch wieder in dein Herz.“, sagte er jetzt ruhiger und berührte die Stelle über seiner Brust.
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich fühlte mich wie in einer Art Schockstarre. Meine Finger verkrampften und unwillkürlich sah ich das Szenario des Unfalls wieder vor meinem inneren Auge. Ich spürte den Aufprall, ich hörte das zermahlene Geräusch von Knochen, durchlebte alles noch einmal. Tränen drückten gegen meine Augen. Mein Atem stockte, einen Moment lang hatte ich das Gefühl in Ohnmacht zu fallen. Dann gelangte ich endlich zurück in die Realität.
Ich drehte mich wortlos um und verschwand in der Dunkelheit.
    Als ich so durch den Park rannte, konnte ich nicht anders und weinte. Die Tränen liefen in Rinnsalen über meine Wangen und drohten in der eisigen Kälte zu gefrieren. Als ich endlich in die Straße einbog, in der ich wohnte, verlangsamte ich meinen Schritt. Ich konnte nicht mit verheultem Gesicht nachhause kommen. Besonders nicht, falls Maeng noch da sein würde. Ich wischte mein Gesicht mit meinem Ärmel trocken und atmete einige Male tief durch. Nach einer gefühlten Ewigkeit schloss ich die Haustür auf und machte mich sofort auf den Weg nach oben in mein Zimmer.
„Kia?“, rief meine Mutter aus dem Wohnzimmer.
„Hi, Mom.“, rief ich zurück.
„Hast du hunger?“, fragte sie.
„Nein, ich habe schon gegessen. Ich bin echt müde.“, meinte ich und schloss die Zimmertür hinter mir. Ich warf meine Jacke achtlos auf den Boden und setzte mich mit einem Kissen vor dem Bauch auf die Fensterbank. Ich schaute in den kleinen Splitter hinauf, den der Mond bildete und versuchte die Geschehnisse von mir zu drängen. Er hatte gesagt Veränderungen seien gut. Ich hatte mich seit der Mittelschule eben auch verändert. Was konnte ich denn dafür, wenn ich besser war als alle anderen?! Was fiel ihm ein mich arrogant zu nennen?! Ich schluckte den Ärger hinunter und setzte mich an meine Hausaufgaben, um mich abzulenken. 

Das restliche Wochenende verbrachte ich schweigend in meinem Zimmer. Es graute mir jetzt schon davor wieder in die Schule zu gehen. Ich wollte weder Tay, noch den Anderen begegnen, die der Ansicht waren sie durften sich einfach so eine Meinung über mich bilden. Inna schien momentan die Einzige zu sein, die mich wenigstens ansatzweise verstand. Oder sie hatte einfach nur aufgegeben. Die beste Entscheidung wäre es wohl gewesen die Schule zu wechseln. Ich fing langsam aber sicher an, alles an der Prideston zu hassen. Und ich konnte auch die Musik immer weniger leiden. Ich hatte das ansteigende Gefühl von ihr betrogen worden zu sein. Als würde sie mir in den Rücken fallen. Und irgendwie stimmte das auch. Ich hatte alles geopfert. Ich hatte so viel Zeit und Hingabe investiert und das alles wurde mir mit zerschmetterten Fingern gedankt. Wenn es einen Gott gäbe, dann verstand ich eindeutig nicht, wie er handelte. Ich verstand nicht, womit ich das alles verdient hatte und wieso niemand auf meiner Seite zu sein schien.

Ich quälte mich am Montagmorgen aus dem Bett, setzte mich wortlos zu Inna in den Wagen und spazierte missmutig in das Schulgebäude. Ich verschwieg Inna das Treffen mit Tay, da ich glaubte es würde weniger real sein, je weniger ich es erwähnte.
    Als ich das Klassenzimmer betrat, saß er bereits an seinem Platz. Auch Hana ließ nicht lange auf sich warten. Sie stolperte in viel zu hohen Schuhen in das Klassenzimmer und wankte auf Tay zu.
„Tay! Euer Konzert war einfach der Hammer. Die ganze Schule spricht noch davon…“, plapperte sie. Ich schaltete auf Durchzug und rollte genervt mit den Augen.
Ich ließ die Stunden über mich ergehen, während ich nur daran dachte endlich nachhause zu kommen. Ich würde das keine einzige Woche mehr aushalten. Irgendetwas musste es doch geben, das mich etwas ablenken konnte. 
     „Der nachdenkliche Blick steht dir.“, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ich durch die Flure zu meinem Spind schlenderte.
Erschrocken blickte ich hoch und erkannte Luan, der neben mir herging. Ich schielte durch die Flure und hielt zu meiner Entsetzung Ausschau nach den drei Mädchen vom Konzert. Wie weit war es schon gekommen, dass ich selbst Angst vor irgendwelchen dummen, kleinen Mädchen hatte, die offensichtlich nur eifersüchtig waren.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte Luan.
„Doch doch.“, beteuerte ich.
„Und hat dir das Konzert gefallen?“, wollte er wissen.
Ich nickte.
„Hab’ ich mir doch gedacht.“, lachte er.
Müde erwiderte ich sein Lachen. Mir war nicht wirklich nach Konversation.
„Hör’ mal.“, fing er an. „Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du heute nach der Schule schon etwas vor hast?!“
Ich schüttelte den Kopf. Wir hatten meinen Spind erreicht. Ich öffnete das Schloss und räumte meine Bücher in den Schrank.
„Vielleicht hast du ja dann Lust, etwas mit mir zu unternehmen.“, sagte er.
„Ich?“, fragte ich verwirrt.
Er nickte und fuhr sich nervös mit der Hand durch die blonden Haare.
Ich zögerte. Die Worte der drei Mädchen hallten in meinem Kopf. Allerdings hatte ich mir schon immer gesagt, nicht auf andere zu hören und mir selbst ein Urteil zu bilden. Ich wollte Luan nicht einfach so verurteilen. Schließlich hasste ich es doch auch, dass alle genau dies mit mir machten.
Luan schaute mich mit großen wachsamen Augen an. Ich glaubte zu wissen, dass er nicht gerade oft Mädchen nach einer Verabredung fragte und erst recht keine Absagen gewohnt war. Was ich von Inna gehört hatte, und was ich bis jetzt mitbekommen hatte, sprach doch sehr dafür, dass die Mädchen Luan reihenweise hinterher liefen. Und das war bei seinem engelsgleichen Aussehen und seiner charmanten Art wohl auch mehr als gerechtfertigt.
Weiter hinten im Gang erkannte ich in diesem Moment Tay. Er stand an die Spinde gelehnt und schaute mit grimmigen Blick zu mir und Luan herüber. Als ich ihn ansah, schaute er langsam in eine andere Richtung. Ich merkte allerdings, dass er uns aus seinen Augenwinkeln noch beobachtete.
„Klar, wieso nicht.“, sagte ich schließlich zu Luan und zauberte ihm damit ein wunderschönes Lächeln ins Gesicht, das mich mit so einer ehrlichen Erleichterung sofort zufrieden stimmte. Irgendetwas an seiner Art weckte in mir beinah eine Form von Beschützerinstinkt.
    Nachdem die letzte Unterrichtsstunde endlich ihr Ende fand, wartete ich vor dem Schulgebäude auf Luan. Ich kam mir etwas merkwürdig vor. Die Schüler, die an mir vorbei gingen, warfen mir neugierige Blicke zu, obwohl ich mein Bestes gab und versuchte mich unauffällig zu verhalten.
„Soll ich dich mitnehmen?“, fragte Inna plötzlich.
„Hast du heute keine Probe?“, wollte ich wissen.
Inna schüttelte den Kopf und wedelte mit ihrem Autoschlüssel vor meiner Nase herum.
Zerknirscht schaute ich sie an und suchte nach den richtigen Worten.
„Ich habe ehrlich gesagt schon etwas vor.“, sagte ich schließlich.
Verdutzt zog sie die Augenbrauen hoch.
In diesem Moment legte von hinten jemand seinen Arm um meine Schultern.
„Bist du soweit?“, fragte Luan. Er war einen ganzen Kopf größer als ich, was zur Folge hatte, dass Inna zwischen ihm und mir hoch und herunter schaute. Sie zeigte verwirrt mit dem Finger auf ihn. „Ihr? Ich meine… du und er? Luan? Aber… wann?“, stotterte sie. Ich zuckte unbeholfen mit den Schultern, vergrub meine Hände in den Taschen meiner Lederjacke und versuchte zu Lächeln. Luan’s Körper vibrierte neben mir vor Lachen.
„Ich ruf dich nachher an, ja?!“, meinte ich, als Luan mich in Richtung Treppe drängte. Wir ließen eine verwirrte Inna zurück. Ich spürte die stechenden Blicke auf mir, als wir über den Parkplatz gingen. Das letzte Mal war es noch halbwegs erträglich gewesen. Aber diesmal mit seinem Arm auf meiner Schulter, wusste ich, dass die Blicke auch mir galten. Kalte, tötende Blicke, die mir nur das Übelste wünschten, obwohl das Übelste mich schon längst heimgesucht hatte.
„Muss das mit dem Arm sein?“, fragte ich leise.
Sofort zog Luan sich zurück. „Tschuldigung. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“, meinte er und fuhr sich verlegen mit den Fingern durch die blonden Locken. Eine Geste, die ich erschreckender Weise total niedlich fand.
„Also worauf hast du Lust?“, fragte er mich, als wir in seinem Wagen saßen und er den Motor startete. „Kaffee, Essen, Kino?“
„Kaffee klingt gut.“, sagte ich, obwohl ich es hasste triviale Entscheidungen zu treffen.
Die Sonne neigte sich schon früh dem Horizont entgegen. Luan hatte uns je einen Kaffee besorgt und dann waren wir an einen nahgelegenen See gefahren, wo wir das Herbstwetter genossen. Seltsamerweise war die Zeit mit Luan so unbeschwert, wie ich es nie erwartet hatte. Ich war mir nicht wirklich sicher, worauf ich mich da eingelassen hatte. Im Grunde wollte ich wohl Tay nach unserem Streit eins auswischen. Aber je mehr Minuten vergingen, desto weniger bereute ich meine Zusage.
„Darf ich dich etwas fragen?“, wollte er wissen, als wir uns auf eine Bank mit Blick auf den See niedergelassen hatten. „Wenn du nicht antworten möchtest, musst du auch nicht.“, fügte er hinzu.
Ich umklammerte meinen Pappbecher mit meinen kalten Fingern und wartete mehr oder weniger gespannt auf seine Frage.
„Wie formuliere ich das jetzt am besten.“, setzte er an und richtete seinen Blick in die Ferne. Seine dunklen Augen glitzerten in der untergehenden Sonne und sein helles Haar schimmerte in satten Goldtönen. Der burgunderfarbene Schal, den er um seinen Hals gewickelt hatte, ergab einen wunderschönen Kontrast zu seinem ebenmäßigen, weißen Gesicht.
„Wenn man einen Traum hat und dann an einen Punkt gelangt, an dem man sich sicher ist, dass man diesen Traum niemals erreichen wird - sei es eigen- oder fremdverschuldet - sucht man sich dann einen neuen Traum, oder hält man dennoch an dem Traum fest?“
Ich schaute ihn schweigend an. Ich hatte eine andere Frage erwartet und musste nun erst einmal überlegen, inwieweit er gerade tatsächlich über mich sprach.
„Warum sollte man an etwas festhalten, was man nie erreichen wird?“, fragte ich.
Luan nickte langsam. „Meinst du, man sollte den Traum vergessen und nicht darauf hoffen, dass sich noch etwas ändert und man es doch schafft?!“
„Ich halte nicht viel von Hoffnung.“, sagte ich knapp.
„Wieso nicht?“, fragte Luan.
„Hoffen ist wie schummeln.“, meinte ich und seufzte. „Wenn man auf etwas hofft, ändert das rein gar nichts an den Tatsachen. Die Leute hoffen und reden sich damit ein etwas zu tun, aber im Grunde sitzen sie nur tatenlos da und schauen zu, was passiert.“
„Also sollte man dem Traum mit aller Kraft hinterher jagen?“
Irgendwie war ich mir sicher, dass es bei diesem Gespräch um mich ging und so langsam fühlte ich mich in der Falle. Egal wie ich es drehte, mein Verhalten ließ sich nicht logisch rechtfertigen.
„Im Grunde wohl schon.“, gab ich zu. Ich nahm einen großen Schluck des warmen Kaffees und blinzelte dem roten Himmel entgegen.
„Wieso tust du es dann nicht?“, fragte Luan. Ich spürte seinen Blick auf mir und als ich ihn ansah, schienen seine Augen mich zu durchdringen. Ich antwortete ihm nicht. Für mich war das Gespräch an dieser Stelle beendet.
„Du verhältst dich genau so tragisch wie Tay.“, jammerte er.
„Tay?“, fragte ich verwirrt.
„Er ist momentan einfach nicht mehr er selbst. Er hat wohl seine Inspiration verloren oder so.“, erklärte Luan.
„Inwiefern?“, hakte ich nach.
„Tay schreibt die Songs für unsere Band alle selbst.“, begann Luan. Überrascht hörte ich zu. Ich wusste ja, dass Tay begabt war, aber Songs zu schreiben hätte ich ihm nicht unbedingt zugetraut.
„Warte, hier.“, sagte Luan plötzlich und fischte in seiner Jackentasche herum. Er holte sein Handy hervor, steckte Kopfhörer an und reichte sie mir. Eine liebliche Melodie erklang in meinen Ohren. Ein Klavierstück, das mich sofort berührte. Auf eine unerklärliche Weise beruhigte mich das Lied, gleichzeitig trieb es mich an, weckte in mir unterbewusste Bedürfnisse. Dann brach das Stück ab. Luan nahm mir die Kopfhörer wieder ab und versenkte sie zurück in seine Tasche.
„Hört es einfach auf?“, fragte ich.
Luan nickte. „Gefällt es dir?“
„Sehr.“, gab ich zu.
„Das Stück hat Tay vor einigen Wochen angefangen zu schreiben. Aber jetzt macht er nicht mehr weiter. Er sagt die Inspiration für das Stück hat sich langsam von ihm entfernt. Sie drohte zu entschwinden und er hat sie verloren. So ein Geschwafel.“, lachte Luan. „Ich habe da wohl eine andere Auffassung als er.“
Ich dachte über seine Worte nach. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Inspiration einfach so verschwand. Man hatte vielleicht neue Inspirationen, die einen zu neuen Dingen leiten und alte Dinge verwerfen lässt, aber dies schien wie eine Art Blockade zu sein, wie man es bei Schriftstellern oft hörte.
„Und was könnte der Grund dafür sein?“, fragte ich.
Luan zuckte mit den Schultern. „Was ich eigentlich sagen wollte ist, dass er sich im Grunde einfach aufgibt. Weil er stehen bleibt und nicht rennt. Genau so wie du.“
Ich lächelte ihn müde an und schob seine Worte beiseite. Ich fand nicht, dass sich diese beiden Situationen auch nur annähernd vergleichen ließen.
„Und was ist dein Paket?“, durchbrach ich nach einer Weile die entstandene Stille.
Fragend blickte er mich an.
„Tay hat keine Inspiration, ich habe kaputte Hände, was hast du, das dich runterzieht?“
Luan lächelte matt. Er sah plötzlich sehr müde und erschöpft aus.
„Ich ziehe die Schuld eines Toten hinter mir her.“, sagte er leise.
Meine Augen weiteten sich ungläubig.
„Bevor ich auf diese Schule gewechselt bin, war ich noch kein Einzelkind. Mein älterer Bruder war im Abschlussjahrgang und sollte bald zur Uni gehen. Ich hatte schon eine ganze Weile das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Aber getan habe ich nichts.“
Stille. Eine unglaubliche Stille, sodass ich das Blut in meinen Ohren rauschen hörte.
„Kai hat sich das Leben genommen. Verstehst du jetzt, wieso es so wichtig ist, zu rennen?“ Er hatte den Blick gesenkt, sodass ihm seine Haare in die Augen fielen.
Ich war sprachlos und rang nach den richtigen Worten.
„Ist schon okay. Du musst nichts sagen. Ich mache mir keine Vorwürfe mehr. Tay hat mich mit ‚Legit‘ aus einem tiefen Loch gezogen. Ich weiß wie es dort unten ist und deswegen will ich nicht mit ansehen müssen, wie irgendjemand anders das Gleiche durchlebt.“
Er schaute mich an und lächelte. Aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Ich spürte das leichte Beben in seiner Stimme und ich hatte das Gefühl, dass er nicht nur mich anlog, sondern auch sich selbst. Irgendetwas an seinem Verhalten, seinem kühlen Blick und seinen matten Augen sagte mir, dass er sich sehr wohl noch die Schuld am Tod seines Bruders gab.
„Sag mal, das Lied, kannst du mir das vielleicht senden?“, fragte ich und wechselte das Thema.
Überrascht blickte Luan mich an. „Ja, klar.“, sagte er verdattert und zog schon sein Handy aus der Tasche und war allen Anschein nach froh über meinen Themenwechsel.
Ich stand schließlich von der Bank auf. „Ich muss langsam mal nachhause. Ich gehe von hier aus einfach zu Fuß.“, meinte ich. „Ich seh’ dich dann morgen in der Schule.“, fügte ich hinzu und schenkte ihm ein Lächeln.
Luan schien etwas überrumpelt zu sein und nickte bloß.
„Achja!“, sagte ich und drehte mich zu ihm herum. Ich war schon ein Stück über den Sandweg gelaufen. „Das Lied war nur ein Vorwand um an deine Nummer zu kommen.“, grinste ich. Daraufhin strahlte Luan, wie er es schon getan hatte, als ich der Verabredung zugesagt hatte. Ganz gelogen hatte ich nicht.
    An diesem Abend dachte ich noch lange an Luan’s Worte. Irgendetwas hatte mich ins Grübeln gebracht. Er hatte zwar gesagt er würde sich keine Vorwürfe mehr machen, aber noch immer wollte ich dem keinen Glauben schenken. 

Die Woche verging wie im Flug. Inna hatte sich während der Tage seltsam von mir distanziert. Wenn immer ich Tay sah, versuchte ich ihm aus dem Weg zu gehen. Nach unserem Streit wusste ich nicht wirklich wie ich mich verhalten sollte und zudem war ich noch immer wütend und verletzt über seine letzte Bemerkung.
Obwohl ich mich mit Luan gut verstanden hatte, wichen wir uns gegenseitig aus. Ich erwischte mich beim Mittagessen, wie ich zu ihm herüber lugte. Er war wie so oft von einem Schwarm Mädchen umgeben, der wohl auch der Hauptgrund dafür war, dass ich ihn selten allein antraf. Was mich aber am meisten traf, waren die wertenden und hochnäsigen Blicke der anderen Mädchen. Als wären sie eine Art Schutzschild für Luan schirmten sie ihn ab und vergraulten mich mit ihren zusammengekniffenen Augen derartig, dass ich mich gar nicht in seine Nähe traute. Nicht, dass es mir viel ausmachen würde, angestarrt zu werden oder nicht gemocht zu werden. Aber ich wollte das Schuljahr einfach nur schweigend und so unauffällig wie möglich hinter mich bringen. Ich hatte keine Lust auf wirre Anfeindungen. Dafür hatte ich im Moment einfach nicht die Kraft. Obwohl ich mir auch immer sicherer wurde, dass ich für gar nichts mehr Kraft hatte. 
Nach der Schule schlief ich meistens direkt ein und so blieben auch meine Hausaufgaben auf der Strecke - sehr zur Missgunst meiner Mutter.
     „Freitag Kino?“, erschien eine Nachricht auf meinem Handy, als ich am Donnerstagabend mit Kopfhörern auf meinem Bett saß und wie so oft dem Lied von Tay lauschte. Ich hatte mir schon langsam Sorgen gemacht, wann Inna sich bei mir melden würde und mit ihrer Nachricht fiel eine große Last von meinen Schultern.
Ich trudelte Freitag vor dem Kino ein. Es war schon ziemlich dunkel und der Wind war so kalt, dass meine Nase schon rot geworden war. Ich lief wartend auf und ab.
Dann sah ich ihn. Er hatte seine schwarze Lederjacke an, trug eine graue Mütze über seinen blonden Locken und hielt ein Mädchen im Arm. Ich blieb stehen und schaute ihn an. Als er mich bemerkte, veränderte sich etwas in seinem Blick. Er sah ertappt aus und schien nicht so recht zu wissen, was er machen sollte. Das Mädchen neben ihm verfolgte seinen Blick und schaute mich neugierig an. Sie sah freundlich aus. Ihre hellbraunen Haare waren zu wunderschönen Locken gedreht. Sie war sehr blass und trug unter ihrem offenen Mantel eine senfgelbe Bluse, die definitiv nicht jedem so gut gestanden hätte.
„Kennst du das Mädchen?“, hörte ich sie fragen.
Aus seinen Gedanken gerissen schüttelte er den Kopf, schaute sie an und drängte sie im nächsten Moment in Richtung Eingang.
„Tschuldige, dass ich etwas zu spät bin.“, keuchte Inna im nächsten Moment hinter mir. „Ich hatte meinen Schülerausweis vergessen und musste noch einmal zurück.“
    Den ganzen Film über hatte ich mich nicht wirklich konzentrieren können. Ich fand es irgendwie seltsam, dass ich so darauf reagierte. Schließlich hatten Luan und ich uns nur ein einziges Mal getroffen und in erster Linie hatte ich nur zugesagt, weil Tay mich so grimmig angesehen hatte. Vielleicht hatte Tay ihm auch gesagt er solle mich nicht noch einmal treffen. Ich war eindeutig viel zu eingebildet.
Als der Film zu ende war, strömte die Masse zum Ausgang. Und wie nicht anders erwartet, liefen Inna und ich Luan und seiner Begleiterin über den Weg.
Ich versuchte krampfhaft zu lächeln, schob mich an ihm vorbei und wäre am liebsten losgelaufen. Doch plötzlich spürte ich einen Griff um meinen Arm. Als ich mich umdrehte, schaute ich in Luan’s dunkle Augen.
„Kia!“, sagte er. Mit großen Rehaugen blickte er mich an.
„Hm?“, fragte ich erstaunt.
Er zog mich einige Schritte beiseite. Inna und seine Begleiterin wechselten einen fragenden Blick und beobachteten uns.
Zögernd sah er mich an und biss sich nervös auf die Unterlippe.
„Hier.“, sagte er und zog einen Schlüsselbund aus seiner Tasche.
Fragend sah ich ihn an.
„Bitte nimm du ihn.“, sagte er mit Nachdruck und streckte mir die Schlüssel entgegen.
„Was ist das?“
„Das ist der Schlüssel zu unserem Bandraum, der zum Baumhaus und der zum Lieferwagen.“, sagte er matt.
„Was soll ich damit?“, fragte ich ziemlich verwirrt.
„Tay ist dieses Wochenende nicht da.“, sagte er und wich meinem Blick aus. Im nächsten Moment fokussierte er mich wieder. „Ich möchte, dass du den Schlüssel hast, falls wir uns nicht mehr sehen.“, fuhr er fort. Ein schmerzendes Lächeln huschte über seine Lippen. Ich zog eine Augenbraue hoch. Als ich den Schlüssel immer noch nicht nehmen wollte, griff Luan nach meiner Hand und legte den Schlüsselbund hinein.
„Bitte?!“, meinte er und etwas Verzweifeltes schwang in seiner Stimme mit.
Ich nickte nur. Sichtliche Anspannung fiel von ihm ab. Er nickte mir zur Verabschiedung zu.
„Bleib’ nicht stehen.“, waren seine letzten Worte. Dann drehte er sich um, griff nach seiner Begleiterin und zog sie aus dem Kino hinaus.
„Was war das denn?“, fragte Inna mit verschränkten Armen.
„Keine Ahnung.“, gestand ich und beäugte die Schlüssel in meiner Hand.
    Inna hatte angeboten mich nachhause zu fahren, doch stattdessen hatte ich mich entschieden zum Baumhaus zu gehen. Luan hatte gesagt Tay wäre dieses Wochenende nicht da und ich war im Besitz des Schlüssels - demnach war es kein Einbrechen mehr und ich lief nicht der Gefahr aus, Tay über den Weg zu laufen.
Der vertraute Geruch des Holzes versetzte mich sofort in eine entspannte Stimmung. Ich kramte mein Handy aus meiner Tasche, schaltete Musik ein und lehnte mich gegen die Wände. So saß ich eine Weile mit geschlossenen Augen dort.
Ich musste zugeben, dass das kleine Keyboard mich wie ein Magnet anzog. Gleichzeitig schienen meine Finger zu kribbeln und kleine elektrische Stöße schnellten hindurch.
Schließlich seufzte ich, rutschte über den Boden und griff nach einem leeren Notenblatt. Ich kramte einen Stift aus meiner Tasche und begann die Noten von Tay’s Lied einzutragen. Er hatte wirklich ein unglaubliches Talent. Die kleinen schwarzen Punkte ergaben ein wundervolles Bild auf dem gestreiften Papier. Man konnte förmlich sehen wie schön das Lied klang, sobald man es auf die Tasten übertragen würde.
Allerdings zögerte ich. Nachdem ich den ersten Teil zu Papier getragen hatte, legte ich meine Hände auf das Keyboard. Doch obwohl es ausgeschaltet war, traute ich mich nicht die Tasten hinunter zu drücken. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich fühlte eine ungemeine Unsicherheit. Ich hatte das Gefühl mich selbst zu betrügen und auf der anderen Seite Tay zu betrügen.
Ich dachte an Luan und sein gezwungenes Lächeln, seinen flehenden Blick und seine letzten Worte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich schaute auf die Uhr. Es war bereits weit nach Mitternacht. Ich blickte auf mein Handy
. Sieben verpasste Anrufe meiner Mutter. Ich rief sie schnell an und versicherte ihr, das alles in Ordnung sei und ich bei Inna wäre. Dann drängte mich plötzlich irgendetwas Luan eine Nachricht zu schreiben. Und so fragte ich nach ob alles in Ordnung sei. Ich starrte eine Weile auf das leuchtende Display, doch es kam keine Antwort.

     Ich hatte eigentlich vorgehabt die Nacht im Baumhaus zu verbringen. Doch es wurde immer kälter und die eisige Luft schlich sich unter meine Kleidung. Ich lief durch die Morgendämmerung zurück nachhause, schloss die Tür so leise wie möglich auf und verkroch mich in die Wärme meines Zimmers.
Noch immer hatte Luan nicht auf meine Nachricht geantwortet. Das einzige, was daran beruhigend war, war, dass er die Nachricht anscheinend auch noch nicht gelesen hatte. Ich zog die Decke bis zu meinem Kinn hoch und je länger ich so dort lag, desto unsicherer wurde ich. Plötzlich fand ich es gar nicht mehr so beruhigend, dass er die Frage noch nicht gesehen hatte. Ich tat kein Auge zu. Ich verbrachte die Stunden damit auf meine Uhr zu starren und zu warten, bis es eine humane Uhrzeit wäre, um jemanden anzurufen. Um 7 Uhr morgens hielt ich es nicht mehr aus. Ich drückte auf das kleine Telefon neben Luan’s Namen und wartete auf das Freizeichen.
„Der gewählte Teilnehmer ist zur Zeit leider nicht verfügbar.“, plapperte eine Stimme mir entgegen. Genervt stieß ich die Luft aus. Luan hatte sein Handy anscheinend ausgeschaltet. 



... es empfiehlt sich an dieser Stelle das Weihnachtsspecial zu lesen.


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Donnerstag, 11. Dezember 2014

Piano Girl - Im Herzen spielt die Musik - KAPITEL 1

Als der Wecker mich an diesem Morgen zum dritten Mal aus dem Schlaf riss, stellte ich mit Erschrecken fest, dass es schon ziemlich spät geworden war. Schnell sprang ich aus dem Bett, kämmte mir kurz durch die Haare, legte etwas Makeup auf und zog einen bequemen Pullover an. Auf dem Weg zur Haustür machte ich noch einen Abstecher in die Küche, griff mir einen Apfel, schnappte meine Lederjacke vom Haken und eilte mit dem Schlüssel in der einen und meinem Rucksack in der anderen Hand aus dem Haus.
Inna wartete bereits auf mich. Sie saß mit Sonnenbrille in ihrem himmelblauen Cabrio. Obwohl es schon recht kalt geworden war und der Herbst sich so langsam einschlich, weigerte Inna sich, das Verdeck zu schließen. Sie war der Meinung, dass dafür noch genug Zeit wäre, sobald der erste Regen einsetzen würde.
„Bereit für deinen ersten Tag?“, fragte sie und schaute mich neugierig an.
Ich seufzte und nickte schließlich.
Es war ein Jahr her, da hatte ich zuletzt diese Schule betreten. Jeder dort wusste, warum ich fort gewesen war und jeder würde mich beäugen. Schon jetzt drehte sich mir der Magen um. Ich biss in meinen Apfel und genoss den Fahrtwind, als Inna durch die Straßen brauste, eine Hand am Lenkrad, die andere hing lässig aus dem Wagen.
„Das wird schon alles werden.“, meinte sie beruhigend, da sie meine Anspannung spürte. „Ich hoffe nur du erschreckst dich nicht…“, gab die anschließend zu bedenken und kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
Fragend blinzelte ich sie an.
„Die Schule hat sich ganz schön verändert.“, sagte sie knapp und zuckte mit den Schultern. Ich beschloss nicht weiter nach zu fragen, da mir Inna’s Hang zu Übertreibungen einfiel. Dennoch wurde das Gefühl in meiner Magengegend immer schlimmer, je näher wir der Schule kamen.
Als wir schließlich auf dem Parkplatz einrollten, erblickte ich zum ersten Mal seit einem ganzen Jahr in vertraute Gesichter. Aber auch eine Menge neuer Schüler schienen sich an der Prideston eingenistet zu haben. Ich blickte mich neugierig um und zuckte unwillkürlich zusammen, als ich ein blondes Mädchen neben dem Eingang erkannte.
„Ja, du hast richtig gesehen. Hana ist zur Barbie mutiert.“
Mit großen Augen beobachtete ich, wie Hana zwei ihrer Freundinnen begrüßte und sie sich gemeinsam in das Schulinnere verzogen. Ich hatte Hana als graue Maus in Erinnerung. Sie hatte damals Jeans und T-Shirt getragen, hatte strähnige braune Haare und so gut wie nie gesprochen. Diese blonde Version in enger Röhre, Stiefeln und Lederjacke stimmte mit meiner bekannten Version überhaupt nicht überein.
„Kurz nachdem du weg warst, hat sie sich die Haare gefärbt und hat so etwas wie ein komplett Makeover hinter sich. Jetzt ist sie total hinter…“, Inna stockte. Dann grinste sie etwas gequält. Sie packte mich am Arm und zog mich Richtung Schulgebäude.
„Ach genug des Geredes.“, plapperte sie unruhig.
Bevor ich mich auf den Weg ins Büro machte, um meinen neuen Stundenplan entgegen zu nehmen, räumte ich noch meine alten Bücher in meinen Spind. Glücklicherweise hatte ich meinen behalten dürfen.
    Gemeinsam schlenderten Inna und ich durch die Schulflure. Ein seltsames Gefühl breitete sich in mir aus. Ich kam mir gefangen und fehl am Platz vor. Ich war den Tränen nah und schluckte stetig den Kloß in meinem Hals hinunter. Ich spürte die Blicke der anderen auf mir und wäre am liebsten sofort wieder nachhause gefahren. Ich hatte mich überhaupt nicht auf diesen Tag vorbereitet. Aber ich hatte mir auch gewünscht er würde nie eintreten. Ich hasste es in dieser Situation zu sein, aber niemand schien mich zu verstehen.
Plötzlich griff Inna nach meinem Arm und drehte mich zu sich herum.
„Was ist?“, fragte ich perplex.
Inna stotterte nur herum. Ich kniff verwirrt die Augen zusammen und sah sie an. Ich wurde aus ihr nicht schlau. Irgendwie benahm sie sich seltsam komisch.
„Okay, es lässt sich wohl nicht vermeiden.“, meinte sie dann und nickte mit dem Kopf in Richtung des Schulbüros. Ich drehte mich langsam um und schaute durch die Glastür ins Innere. Einige Schüler saßen auf der Bank und warteten, dass sie an der Reihe waren. Eine Sekretärin, die ich noch nie gesehen hatte, telefonierte und fuchtelte dabei wild mit den Händen herum. Die andere sprach gerade mit einem Schüler. Seine langen Beine steckten in einer schwarzen Hose. Er trug eine schwarze Lederjacke unter der ein rotes Karohemd herausguckte. Er kam mir bekannt vor, aber ich konnte nicht zuordnen wieso. Seine Bewegungen waren so vertraut und doch hätte ich schwören können ihn noch nie gesehen zu haben.
„Prideston's zweite große Überraschung neben Hana.“, meinte Inna. In dem Moment drehte sich der Junge um und schritt auf die Tür zu. Sein dunkles Haar fiel ihm tief in die Stirn. Als hätte er meinen Blick gespürt, fuhr er sich mit der Hand durch die Strähnen. Er öffnete die Tür, schwang in diesem Moment seinen Rucksack über eine Schulter und ging geradewegs auf Inna und mich zu. Sein Blick war so unglaublich intensiv, dass ich wie angewurzelt im Flur stand. Seine braunen Augen waren von einem dichten Kranz Wimpern gerahmt. Sein elfenbeinfarbenes Gesicht war von tiefen Schatten geprägt und seine vollen Lippen waren einen Tick zu blass. Als sich unsere Blicke trafen, verzog sich sein Mund zu einem schiefen Lächeln. Dann war er weg, hinter uns im Gang verschwunden.
„Wir haben einen neuen Vampirschüler bekommen?“, fragte ich.
Inna lachte. „Wieso denn neu? Hast du ihn denn nicht erkannt?“, fragte Inna plötzlich ernster. Wir beide drehten uns um und schauten ihm nach, bis er in der Masse der Schüler untergegangen war.
Ich schüttelte den Kopf.
„Das war Tay.“
Mein Mund klappte auf.
„Das kann nicht sein.“, hauchte ich.
Ich hatte ja schon erlebt, dass Kinder aus ihren zu großen Ohren rauswachsen waren, oder sie plötzlich ihr Babyspeck verloren und mit schönen Wangenknochen versorgt waren. Aber das, was ich gerade gesehen hatte, war eine Veränderung, die mir weismachen wollte innerhalb eines einzelnen Jahres stattgefunden zu haben. 
„Er ist seine Zahnspange losgeworden, hat Sport gemacht und ist Leadsänger von ‚Legit‘.“, erklärte Inna meine unausgesprochenen Fragen.
„‚Legit‘?“, fragte ich.
„Prideston’s erste zugelassene Rockband.“, meinte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich erklär’s dir in der Mittagspause. Bis dahin musst du leider ohne mich überleben.“ Sie grinste und machte sich auf den Weg in ihr Klassenzimmer. Eine Weile schaute ich ihr noch nach, dann widmete ich mich der Sekretärin und bekam meinen Stundenplan ausgehändigt.
„Miss?“, fragte die blonde Sekretärin. „Mr. Sang möchte mit Ihnen sprechen.“, sagte sie und deutete auf eine Tür zu ihrer rechten. Ich nickte nur, klopfte an die Tür und wurde kurz darauf von Mr. Sang herein gebeten.
„Miss Ahn.“, begann er und seufzte. „Ich kann ihren Stundenplan so leider nicht gelten lassen.“, sagte er und beugte sich über den Tisch.
Ich blickte ihn stumm an.
„Sie haben kein einziges Musikfach gewählt.“, erklärte er.
„Doch. Ich habe Musikgeschichte.“, meinte ich, legte meinen Stundenplan vor ihn hin und deutete auf das blaue Feld in dem in kursiver Schrift „Musikgeschichte“ stand.
Er schloss die Augen und sog scharf die Luft ein.
„Ich denke Sie wissen wie ich das meine.“, sagte er schließlich und sah mich dann durchdringend an.
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich werde nicht mehr spielen.“, sagte ich knapp.
„Ich befürchte das müssen Sie aber.“, sagte er. „Sie können auch ein anderes Instrument wählen, wenn Sie…“, fuhr er fort, doch ich unterbrach ihn. „Auf keinen Fall.“, meinte ich schroff. Ich kniff wütend die Augen zusammen und stierte ihn an.
„Miss Ahn. Wir sind eine Schule mit dem Schwerpunkt Musik. Dies setzt voraus, dass Sie ein Instrument spielen.“
„Wo steht das?“, wollte ich wissen.
„Nun machen Sie es mir doch nicht so schwer.“, jammerte er.
Sein graues Haar stand wirr von seinem Kopf ab und seine Brille schwankte derart locker auf seiner Nase, dass ich schon befürchtete, sie würde jeden Augenblick herunter fallen.
„Was an ‚Ich werde nicht mehr spielen‘, haben Sie nicht verstanden?“
„Ihnen fehlen aber Stunden.“, versuchte er dann und beäugte meinen Stundenplan.
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Nein. Ich habe genug Stunden. Darauf habe ich schon geachtet.“, meinte ich und schob das Papier dichter zu ihm heran.
Er rieb sich nervös die Schläfen.
„Mr. Sang. Entweder Sie akzeptieren meinen Stundenplan so, oder Sie werfen mich raus.“, sagte ich und erhob mich von meinem Stuhl. Ich schnappte ihm den Zettel weg und verließ sein Büro. Genervt eilte ich durch die Flure zu meiner ersten Stunde. Als ich endlich das Klassenzimmer erreichte, war ich heilfroh, dass sich schon eine große Menge an Schülern hier angesammelt hatte. So würde ich weniger auffallen. Ich verkrümelte mich in die letzte Reihe und wartete bis der Unterricht endlich losgehen würde.
Ich hatte schon erwartet, dass Mr. Sang es nicht einfach so hinnehmen würde, dass ich jegliches Instrument ablehnte. Aber das war nun einmal meine Entscheidung und die hatte er zu akzeptieren. Nicht nur, dass ich nie wieder so gut sein würde, wie ich es einmal war. Nein, ich hätte dies auch noch vor der gesamten Schule zu tragen. Vielleicht war das Klavier einmal mein Lebensinhalt gewesen. Und wahrscheinlich hätte ich zu diesem Zeitpunkt auch gemeint, es wäre das Wichtigste gewesen, was ich hatte. Aber so wie Hana und Tay innerhalb eines Jahres zu Models mutiert waren, hatte ich eben das Klavier aufgegeben. Ich konzentrierte mich jetzt eben auf den geschichtlichen Teil der Musik. Ich musste nur den Abschluss hinter mich bringen und dann konnte ich machen, was ich wollte. Nur dass ich gar nicht wusste, was das überhaupt war.
    Mein Traum war es einmal gewesen große Konzerte zu geben. Säle zu füllen, Menschen zu begeistern. Ich wollte spielen und spielen, bis meine Finger Wund waren und bis es kein Lied mehr gab, das zu schwer für mich war. Ich wollte in Menschen Erinnerungen wecken, sie zum Weinen und zum Lachen bringen. Aber das ging nun eben nicht mehr. Es musste ein neuer Traum her. Und das möglichst schnell.
„Sieh’ an. Unser Ausnahmetalent ist zurück.“, säuselte Hana mit gespielter Höflichkeit. Sie ließ sich auf den freien Platz neben mir nieder. Ich schielte nur einmal kurz zu ihr hinüber, entschied mich aber, vorerst nicht auf ihre blöden Sprüche einzugehen.
„Ich habe gehört du hast deine Karriere an den Nagel gehängt?!“, fuhr sie fort und ich konnte ihren durchdringenden Blick spüren.
Ich schaute sie an, sagte aber nichts.
„Selbst wenn du noch spielen würdest, bist du längst nicht mehr der Star dieser Schule.“, meinte sie und grinste boshaft. Vielleicht war ich auch nur paranoid und bildete mir ein, dass Hana ziemlich hinterlistig und schadenfroh klang.
„Aber sag mal, wenn du nicht mehr spielst, was machst du dann noch hier?“, fragte sie und blinzelte mich mit großen Kulleraugen an.
„Na, Hana. Nervst du schon am ersten Tag wieder die Leute?!“, hallte eine männliche Stimme durch das Klassenzimmer. Hana fuhr hastig herum und sprang von ihrem Stuhl auf.
„Tay!“, japste sie.
Tay schob sich mit seinen schlanken, langen Beinen an den Tischen vorbei und setzte sich in eine der vorderen Reihen.
Hana ließ sich derweil mürrisch auf ihren Stuhl fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. So richtig verstand ich nicht, was Hana’s Problem war, aber allen Anschein nach, passte es ihr nicht in den Kram, dass Tay sie ermahnt hatte.
Zu meinem Glück ignorierte sie mich den Rest der Stunde. Mrs. Jun plapperte aufgeregt von irgendwelchen Vögeln, die sie in den Ferien beobachtet hatte. Sie war so abgelenkt, dass sie gar nicht mitbekam, dass die Hälfte der Klasse, einschließlich mir, die Köpfe auf den Tischen hatte und dabei war einzuschlafen. 
    Als endlich Mittagspause war, konnte ich gar nicht schnell genug aus dem Klassenzimmer fliehen und machte mich auf die Suche nach Inna.
Ich schlang meine Portion Reis förmlich hinunter und drängte Inna mir mehr von ‚Legit‘ zu erzählen.
„Ist ja gut.“, gab sie endlich nach. „Sie sitzen immer dort drüben.“, meinte sie und schielte mit dem Kopf nach links geneigt zu einem der Tische hinüber. „Schau nicht zu offensichtlich hin.“, ermahnte sie mich. Vorsichtig lugte ich zu dem Tisch hinüber, an dem sich gerade eine Gruppe Jungen niederließ. Tay entdeckte ich allerdings nicht.
„Siehst du den Typen mit dem Laptop?“, fragte sie mich. Ich nickte kurz und wandte den Blick sofort wieder von dem Tisch ab, was mir im übrigen ziemlich bescheuert vorkam.
„Das ist Kien, der Keyboarder. Er ist kurz nach deiner Abreise hierher gewechselt und hat das Ganze wohl ins Rollen gebracht. Trotzdem ist er der Zurückhaltendste von allen.“
„Kien der Keyboarder.“, wiederholte ich und musste lachen.
Inna verstand meinen Witz erst einige Sekunden später und fing schließlich auch an zu lachen. Sie schüttelte de Kopf und fuhr fort: „Der mit den Locken. Das ist Luan. Er ist der Bassist und der totale Mädchenschwarm. Letztes Jahr wurde er fast einheitlich zum Bestaussehendsten der 10. Klasse gewählt.“
Ich konnte es mir nicht nehmen und begutachtete Luan etwas genauer. Und tatsächlich hatte er etwas Umwerfendes an sich. Die wilden, blonden Locken und seine großen Augen ließen ihn niedlich und unschuldig wirken. Im Kontrast dazu standen seine muskulösen Arme und die mit Nieten besetzte Jeansjacke.
„Der, der an seinem Handy zugange ist.“, schmatzte Inna. „Das ist Kris. Er ist der Gitarrist und jetzt in der 12. Alle fragen sich, was die Band ohne ihn machen wird. Oder ob er wiederholt oder so.“
„Fällt er denn durch?“, fragte ich irritiert.
Inna’s Antwort war eine Mischung aus einem Schulterzucken und Kopfschütteln. Ich hob fragend die Augenbraue und widmete mich meinem Gurkensalat.
„Lass mich raten, der Typ mit den Sticks ist der Drummer.“, lachte ich.
„Chen. Der heimliche Anführer der Band. Natürlich ist Tay der Leader, aber man munkelt, dass im Grunde Chen die Fäden zieht und Tay nur das Aushängeschild ist, quasi eine Marionette.“
„Und glaubst du das?“, wollte ich wissen.
„Nicht unbedingt. Ich meine, ich kenne Tay nicht so gut, aber er wirkt auf mich nicht wie jemand, der sich von anderen was sagen lässt.“, meinte sie.
Stumm schaute ich zu dem bunten Treiben am Bandtisch hinüber. Noch immer war Tay nicht bei ihnen aufgetaucht. Ich musste mir eingestehen, dass diese vier Jungs eine ganz schöne Ausstrahlung hatten. Wären wir jetzt in so einem amerikanischen Teenie-Film gewesen, wären sie auf jeden Fall die beliebten Kids gewesen, mit denen jeder abhängen wollte. 

Als der Unterricht endlich zu Ende war, wanderte ich durch die Korridore der Schule. Inna hatte noch eine Besprechung und ich hatte beschlossen auf sie zu warten. Es war ein unangenehmes Gefühl durch die Schule zu gehen. Das Gefühl vom Morgen war nicht verschwunden. Noch immer fühlte ich mich unwohl und falsch. Gedankenverloren zog ich Treppen hinauf und Gänge entlang, bis ich mich schließlich vor dem Klavierraum wieder fand. Ich blieb wie angewurzelt stehen und schaute durch das schmale Fenster der Tür in das Rauminnere. Das Klavier stand dort einsam und unberührt. Meine Hände fingen an zu zittern. Mir wurde schwindelig und heiß. Ich schloss die Augen, sog scharf die Luft ein und wandte mich langsam zum Gehen. Leise Musik fing meine Aufmerksamkeit. Ich folgte der Melodie. Sie wurde immer lauter und ich erkannte den Klang einer Gitarre. Ich erreichte den großen Musikraum. Leider konnte ich nicht hineinsehen, da die Jalousien des Fensters hinunter gelassen waren. Ich stellte mich dicht an die Tür und versuchte durch den schmalen Spalt, den die Jalousie freiließ, zu sehen. 
„Ich komm’ gleich wieder.“, hallte eine Stimme durch die Tür. Viel zu spät reagierte ich und prallte mit jemandem zusammen, als er die Tür aufriss und in den Flur trat. Ich landete rücklings auf dem Hintern. Ich stöhnte kurz auf.
„Huch?!“, japste eine männliche Stimme. Er reichte mir die Hand und als ich aufsah, erblickte ich Luan’s Lockenkopf.
„Du bist bestimmt neu hier.“, meinte er. „Die Bandproben finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.“, grinste er.
„Tschuldigung.“, stotterte ich nervös und klopfte mir den imaginären Staub von der Kleidung.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er und legte mir dabei eine Hand auf die Schulter. Meine Knie wurden weich. Ich nickte heftig.
„Mit wem redest du? Ist da jemand?“, drang eine Stimme aus dem Proberaum und sofort erkannte ich, dass es Tay’s Stimme war.
„Nein, nein.“, sagte er hastig. „Du solltest lieber gehen.“, sagte er freundlich aber bestimmt. Ich nickte und ging schnell zurück durch den Gang. Genau in diesem Moment trat Tay aus der Tür und schaute mir verwundert nach.
Den Rest der Woche ignorierte Hana mich zu meiner Erleichterung. Aber auch Tay schenkte mir keine Aufmerksamkeit. Ich fragte mich, ob er noch wusste wer ich war. Ich fand es schon etwas seltsam, dass Inna mich nicht auf ihn ansprach. Sie wusste schließlich, wie eng ich mal mit Tay befreundet war. Aber dies alles schien wie weggewischt zu sein. Ich war nur noch ein niemand. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass ein Niemand zu sein um einiges besser war, als von allen wie von Hana behandelt zu werden. Auch, dass Luan mich offensichtlich für eine neue Schülerin gehalten hatte, gefiel mir. Es bedeutete einen Neustart.
Ich starrte auf den Sekundenzeiger der Uhr. Hana tippte auf ihrem Handy herum. Einige Schüler schliefen wie gewöhnlich. Tay war diese Stunde nicht anwesend. Nervös trommelte ich mit den Fingern auf der Holzplatte herum. Ich wollte, dass dieser Tag endlich endete. Ich wollte nachhause, in mein Bett und mich unter meiner Decke verkriechen. Am liebsten wäre ich gar nicht mehr zur Schule gegangen, aber das hätte meine Mutter niemals zugelassen. Ich hatte ihr sogar vorgeschlagen die Schule zu wechseln, aber auch dies lehnte sie strikt ab. Jegliche Diskussionen mit ihr führten zu rein gar nichts.
Endlich ertönte die erlösende Schulglocke. Wie in Zeitlupe packte ich meine Sachen zusammen und verließ das Klassenzimmer. In den Fluren herrschte schon eine große Aufregung. Alle tuschelten wild miteinander und drängten Richtung Foyer.
Ich räumte noch meine Bücher in meinen Spind und versuchte aufzuschnappen, was die anderen tuschelten. Der Andrang im Foyer wurde immer größer.
„‚Legit‘ gibt heute ein Konzert.“, brüllte schließlich jemand durch die Schule. Die Lautstärke wurde unerträglich. Die Mädchen schrieen, als handle es sich tatsächlich um irgendwelche Berühmtheiten und selbst die Jungen schienen vollends begeistert zu sein. Ich drängte mich durch die Menschenansammlung zum Ausgang. Ich erhaschte nur kurz einen Blick auf die Poster, die nun das Foyer zierten.
Als ich ins Freie trat fiel eine große Last von mir ab. Die erste Schulwoche hatte ich endlich hinter mir. Ich eilte die Treppe hinunter, da kam eine Gruppe Jungs lachend auf mich zu. Ich versuchte noch auszuweichen, aber wurde glatt umgerannt. Ich verlor das Gleichgewicht und schwankte nach vorn, da wurde ich zur Seite gerissen. Ich hatte mich schon die Treppe hinunter fallen sehen.
„Wow, ich renne ganz schön oft in dich hinein.“, lachte Luan. Doch in seinem Gesicht lag etwas Entschuldigendes. Die Jungs um uns herum waren still geworden und starrten uns an. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mehr oder weniger in Luan’s Armen lag. Ich schob ihn von mir und lächelte ihm etwas gezwungen zu, ehe ich mich wieder meinem eigentlichen Ziel widmete und die Treppe hinunter hastete.
Luan heftete sich an meine Fersen.
„Du hast aber ein ganz schönes Tempo drauf.“, lachte er.
Ich beachtete ihn nicht weiter.
„Musst du irgendwo dringend hin?“, wollte er wissen, während er mit mir Schritt hielt.
„Nachhause.“, sagte ich.
„Soll ich dich mitnehmen.“, fragte er dann.
Ich wurde langsamer und blieb schließlich stehen.
„Das würdest du machen?“, fragte ich.
Luan nickte. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Sein blondes Haar fiel ihm in die Stirn. Seine dunklen, runden Augen glitzerten in der Nachmittagssonne in verschieden Brauntönen, die nach leckerer Schokolade aussahen.
„Na komm.“, meinte er und winkte mich mit zum Parkplatz. Mir blieb nicht verborgen, dass wir auf dem kurzen Weg von eigentlich Jedem angestarrt wurden, an dem wir auch nur annähernd vorbei gingen. Ich wollte eh nur mit ihm mitfahren, weil es meinen Weg um einiges verkürzen würde.
„Muss nervig sein.“, sagte ich matt.
„Was?“
„So angestarrt zu werden.“
Er zuckte mit den Schultern und lachte.
Luan startete den Motor. Ich nannte ihm meine Adresse und das Auto rollte vom Parkplatz. Die Fahrt über schaute ich stumm aus dem Fenster und auch Luan schien nicht wirklich zu wissen, worüber er mit mir reden soll.
„Sag mal, ich will nicht aufdringlich wirken oder so…“, begann er seinen Satz. Ich blickte ihn fragend an. Er kaute unsicher auf seiner Unterlippe herum.
„Hast du vor wieder Klavier zu spielen?“, fragte er schließlich. Ich war von dieser Frage etwas überrascht. Er hatte es bis jetzt so aussehen lassen, als wüsste er nicht wer ich war. Aber vielleicht hatte er inzwischen von den anderen davon mitbekommen.
„Die ganze Schule weiß wahrscheinlich schon davon.“, sagte er dann und beantwortete damit meine Frage woher er davon wusste.
„Du bist schließlich wieder auf der Schule. Also solltest du wohl auch ein Instrument spielen.“, sagte er. Ich konnte seine Unsicherheit spüren und ich wusste auch, dass er solch eine Situation nicht gewohnt war.
„Jedenfalls heute Abend ist ja unser Konzert. Komm doch auch.“, wechselte er das Thema.
„Und dann?“, fragte ich knapp.
„Wow.“, lachte er. „Du bist echt anders.“ Er schüttelte den Kopf.
Irgendwie fühlte ich mich von seiner Bemerkung angegriffen. Ich wusste ja, dass ich etwas mürrisch war. Aber ich hatte ja wohl auch einen guten Grund.
„Ich komme.“, sagte ich dann, da ich ihm die Genugtuung nicht lassen wollte.
Überrascht blickte er mich an. Dann lachte er in sich hinein.
Er hielt den Wagen vor meiner Tür, rief mir noch so etwas wie ‚bis nachher‘ nach und brauste davon. Ich schaute dem Auto noch so lange nach, bis es zu einem kleinen Punkt in der Ferne geworden war.
Erschöpft stakste ich die Treppe nach oben in mein Zimmer und ließ mich mit meinem Laptop auf mein Bett fallen. Es dauerte keine Minute, da hatte ich schon das Profil von ‚Legit‘ im Netzwerk unserer Schule gefunden. Ich klickte durch die Bandmitglieder, die allesamt nicht viel über sich ausgefüllt hatten. Aber das war ja auch schließlich viel cooler und geheimnisvoller wenig über sich preiszugeben. Gut, ich übertrieb, denn auf meinem Profil stand auch nicht gerade viel.
Ich öffnete meine Seite. Ein Mädchen lächelte mir fröhlich entgegen. Ein Mädchen, das ich seit einem Jahr nicht mehr im Spiegel gesehen hatte. Ich löschte das Foto von der Seite. Dann bearbeitete ich noch die Instrumentensparte. Klavier. Jetzt war die Sparte leer. Es fühlte sich an, als wäre ein Teil von mir gerade gestorben. Ein Teil, der nur durch diese Seite noch am Leben gehalten wurde. Aber es war eine Lüge. Das war nicht mehr ich.
    Ich schaute mir schließlich noch Hana’s Profil an. Sie hatte alle ehemaligen Bilder gelöscht. Aber wer konnte ihr das schon verübeln. Irgendwie glaubte ich zu wissen, wie sie sich hatte fühlen müssen. Mit einem seltsamen Zögern klickte ich zuletzt auf Tay’s Profil. Ich wusste nicht genau was mich davon abhielt. Irgendwie hatte ich ein beklemmendes Gefühl, als könnte mir seine Seite eine unschöne Wahrheit unterbreiten.
Ich erinnerte mich an vergangene Zeiten. Ihn zu sehen löste unglaubliche Erinnerungen in mir aus, ließ mich Dinge erleben, die ich glaubte bereits aus meinem Gedächtnis gelöscht zu haben.
Wir waren damals so gute Freunde geworden. Wir hatten so gut wie jeden Tag im Park verbracht. Versteckt in unserem Baumhaus und Klavier gespielt. Doch mit den schönen Erinnerungen, dem Spaß und der Freude, kamen auch die düsteren Zeiten zurück. Sobald wir auf die Prideston gewechselt waren, wurde alles anders. Wir verloren uns aus den Augen. Ich hatte nur noch das Klavier im Kopf. Ich lernte und lernte. Meine Mutter hatte darauf bestanden einen Privatlehrer zu engagieren, der mich nach der Schule zusätzlich unterrichtete. Sie setzte alles daran, dass ich mein Ziel nicht aus den Augen verlor. Doch so blieb Tay auf der Strecke. Der kleine, dickliche Junge mit der Zahnspange war nur noch ein Teil meiner Vergangenheit. Ich hatte keine Zeit mehr mit ihm im Baumhaus zu spielen und auch sonst ging ich ihm aus dem Weg und kostete meinen Status als Ausnahmetalent voll aus. Wie gerecht, dass ich nun mit zwei kaputten Händen gestraft war, während Tay sein Leben und seine Karriere noch vor sich hatte.
Ich lachte bitter in mich hinein. Wie schwer es auch für mich sein musste, ich wollte mir gar nicht ausmalen, was meine Mutter dabei empfand. Ich war ihr bis jetzt aus dem Weg gegangen und hatte Gespräche vermieden. Aber das würde nicht ewig so weiter gehen.

„Mom?“, fragte ich, als wir gemeinsam am Tisch saßen und zu Abend aßen.
Sie blickte von ihrem Teller auf und sah mich an.
Die Stille zwischen uns war ohrenbetäubend und das Ticken der großen Uhr hämmerte unaufhörlich gegen mein Trommelfell.
„Ich geh heute Abend noch weg, ja?!“
„Wohin?“, fragte sie überrascht.
„Welche von meiner Schule geben ein Konzert.“, sagte ich. Weitere Details wollte ich lieber nicht preisgeben, da ich annahm sie würde eine Rockband nicht mehr ganz so klasse finden.
„Wann kommst du wieder?“, fragte sie nur. Ich konnte nicht deuten, ob sie sich freute oder eigentlich dagegen war.
„Das kann ich noch nicht sagen.“
„Soll ich dich bringen und abholen?“, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
„Schreib mir bitte, wenn du dich auf den Nachhauseweg machst.“, meinte sie dann und lächelte mich an.
Ich nickte stumm.
    Nach dem Essen verzog ich mich zurück in mein Zimmer und machte mich in meinem Kleiderschrank auf die Suche nach etwas zum Anziehen. Dabei wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, was man auf einem Rockkonzert überhaupt trug. Soweit ich mich erinnern konnte, war ich noch nie auf einer derartigen Veranstaltung gewesen. Ich wollte auf keinen Fall overdressed sein. 
Ich entschied mich schließlich für eine schwarze Jeans, ein einfaches Top und meine Jacke, die ich schon seit Jahren jeden Tag trug. 


Schon auf der Straße hallte mir die Musik entgegen. Eine der Vorbands quälte gerade die Instrumente. Ich betrat den kleinen Club. Die Luft war verqualmt und stickig. Ich erkannte viele Gesichter aus der Schule wieder. Hauptsächlich hatten sich allerdings Mädchen eingefunden. Sie standen um die Tische herum, kicherten und hielten gespannt nach ‚Legit‘ Ausschau.
Unsicher schob ich mich durch die Mengen. Plötzlich quietschten neben mir einige Mädchen auf, sodass ich mir erschrocken die Ohren zuhielt.
„Hi Luan.“, säuselte die eine.
„Du bist gekommen.“, sagte er zu mir und grinste mich an.
„Hab’ ich dir doch gesagt.“, meinte ich knapp und versuchte möglichst unbekümmert auszusehen. Die anderen Mädchen schauten mich grimmig an und begannen zu tuscheln. Im nächsten Moment war die Vorband fertig und verließ unter magerem Applaus die Bühne. Kien rief nach Luan, der allerdings nicht reagierte.
„Dein Typ wird verlangt.“, meinte ich dann.
Er verzog den Mund, nickte und ließ mich stehen.
„Hey!“, fuhr mich das eine Mädchen an. Sie hatte langes, dunkles Haar, trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck ‚Legit‘ und große schwarze Ohrringe.
„Luan redet nur mit dir, weil du eine Bekanntheit bist. Er braucht dich nicht, also lass’ deine Finger von ihm. Du kannst eh nichts mehr und ein Talent bist du auch nicht.“, giftete sie.
„Ach lass sie doch. Guck’ sie dir doch an. Als ob er von so einer was wollen würde.“, meinte das Mädchen neben ihr und musterte mich abfällig.
Ich entgegnete nichts. Stattdessen drängte ich mich weiter an den Rand.
„Hey! Wir haben mit dir geredet.“, brüllte sie mir noch nach.
Obwohl ich mir nichts hatte anmerken lassen, hatten ihre Worte mich ziemlich getroffen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen hierher zukommen. Vielleicht war es schon ein Fehler gewesen mich nicht gegen meine Mutter durchzusetzen und die Schule zu wechseln. Ich hatte ja mit Blicken und Getuschel gerechnet. Aber derart angefeindet zu werden - das hätte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht ausgemalt. Man sollte meinen eine Eliteschule hätte mehr Klasse. Jeder war hier genauso gierig und genauso selbstbezogen, wie überall anders auch.
Gekreische füllte den Club. Tay hatte die Bühne betreten. Er hatte eine Gitarre umgeschlungen und griff nach dem Mikro. Sein wirres Haar stand in alle Richtungen vom Kopf an.
„Schön, dass ihr heute alle gekommen seid.“, sagte er in das Mikro. Erneut brach die Menge in ein heulendes Kreischen aus. Tay lachte. Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Er sah so anders aus und doch erkannte ich den Tay von damals in ihm. Sein Lachen war noch genau das selbe. Nur, dass es ohne Zahnspange noch um einiges schöner aussah als zuvor. Tay war noch nie hässlich gewesen. Er hatte nur eben ein unvorteilhaftes Drahtgestell im Mund und etwas zu viel Kilos auf den Hüften und vor allem in den Wangen gehabt. Aber nicht, dass mich Jungs je interessiert hätten.
Tay ließ seinen Blick durch die Menge gleiten und da bildete ich mir ein, dass er meinen Blick fing und eine Sekunde lang daran festhielt.
Als nächstes ertönte der erste Akkord. „Wir spielen jetzt unser erstes Lied. Waterlily.“, sagte er mit seiner zauberhaften Stimme. Chen zählte den Takt an und begann den Rhythmus auf dem Schlagzeug zu spielen. Zu meiner Überraschung war ‚Legit‘ sogar echt gut. Nicht nur die Melodien, die von Keyboard und Gitarre rauf und runter geklimpert wurden, allem voran Tay’s Stimme, die mir ein so vertrautes und wunderbares Gefühl verlieh, dass ich auf Wolken zu schweben schien. Ich konnte mich zwar nicht vollends für die Art von Musik begeistern, aber ich konnte durchaus nachvollziehen, was andere an der Band fanden. Abgesehen von dem Offensichtlichen natürlich.
Ich blieb das gesamte Konzert über ruhig am Rand stehen. Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht so wenig wie möglich aufzufallen und möglichen Anfeindungen aus dem Weg zu gehen. ‚Legit‘ spielte insgesamt fünf Lieder. Danach verlangten die Fans zwar nach einer Zugabe, aber die Mitglieder verkrümelten sich stolz und grinsend von der Bühne. Ich streifte noch etwas durch den Club, fing die Atmosphäre ein, schnappte Gesprächsfetzen auf und beobachtete einzelne Personen. Es war noch nicht allzu spät und ich hatte keine Lust schon den Heimweg anzutreten. Es war lange her gewesen, dass ich unterwegs war. Und das nach dem Abendessen. In der Reha-Klinik hatte ich kaum Ausgang und selbst wenn, dann nur unter Aufsicht. So genoss ich ein kleines bisschen Freiheit.
Irgendwann leerte sich der Club weitgehend. Und so machte auch ich mich langsam auf den Weg nach draußen, bevor ich noch von den drei Mädchen von vorhin begegnen würde.
Ich atmete die frische Nachtluft ein, kramte mein Handy aus meiner Tasche und tippte schnell eine Nachricht an meine Mutter ein. Ich entschied mich anschließend durch den Park zu gehen. Obwohl die Bäume im dunklen ziemlich unheimlich aussahen, fand ich den Weg um einiges angenehmer, als an der Hauptstraße entlang zu gehen. 



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