Sonntag, 28. Dezember 2014

Piano Girl - Weihnachtsspecial

Dezember 2006

Das ganze Land war von einer dicken Schneedecke überzogen. Eisige Flocken tanzten in der Luft und wehten durch die kahlen Äste, die sich dem blauen Himmel empor reckten. Es roch nach Winter, nach Schnee und nach dem Rauch des Feuers, das in den Kaminen der Häuser entflammte und damit der frostigen Kälte entgegen wirkte. Der Schnee knirschte unter Kia’s Füßen, als sie sich ihren Weg durch die glitzernde Puderlandschaft bahnte. Sie hatte den Schal bis über die Nasenspitze gezogen, die Hände tief in den Taschen vergraben und klapperte vor Kälte mit den Zähnen. Endlich im wohlig warmen Heim angekommen, warf sie ihren Mantel auf den Boden, schüttelte ihre Schuhe von den Füßen und eilte die Treppe nach oben in ihr Zimmer.
„Du sollst doch deinen Mantel an den Haken hängen.“, rief Suna ihrer Tochter aus dem Flur zu. Kopfschüttelnd räumte sie Kia’s Winterkleidung auf und folgte ihr in das obere Stockwerk des Hauses.
„Zieh bitte das Kleid an, was ich dir rausgesucht habe. Maeng und Gemma sind jede Minute hier.“, meinte Suna, als sie das Zimmer ihrer Tochter betrat. Kia lag auf dem flauschigen Langflorteppich auf dem Boden und blätterte eifrig in einem Comicheft.
„Kia!“, ermahnte ihre Mutter sie.
Widerwillig stöhnte Kia und stierte Suna böse an.
„Ich will das Kleid nicht anziehen.“, protestierte sie.
In diesem Moment läutete die Türklingel.
„Du ziehst dieses Kleid an, oder du hast Hausarrest. Dann war’s das mit deinen Treffen mit Tay.“, sagte Suna böse. Sie drehte sich um und hastete die Stufen nach unten, um die Tür zu öffnen.
Wütend zog Kia das rote Samtkleid an, welches Suna an ihren Kleiderschrank gehängt hatte. Sie stapfte die Treppe hinunter und schaute in die stumpfen Gesichter von Maeng und Gemma. Maeng wie immer in weißer Bluse mit teurem Blazer und glänzen Schuhen und Gemma das Abbild ihrer peniblen Mutter mit Lackschuhen, Seidenkleid und einem Haarreif auf den perfekt glatten und glänzenden Haaren.
„Kia! Wie siehst du nur aus. Hättest du dir nicht wenigstens einmal die Haare bürsten können.“, blaffte ihre Mutter, als sie das Ende der mit Teppich ausgelegten Treppe erreichte. Maeng warf ihr einen hochnäsigen Blick zu und schob dann Gemma vor sich her Richtung Esszimmer, wo Suna in den letzten Stunden eine leckere Sahnetorte vorbereitet hatte.
„Gemma hat ja solche Fortschritte gemacht. Pavlo sagt die Geige ist wie für sie geschaffen.“, textete Maeng in ihrer hohen schwingenden Stimme.
„Ich wünschte ich könnte das gleiche von meiner Kia behaupten. Sie tut sich ziemlich schwer.“, meinte Suna und schaute verlegen auf den Boden.
Gemma hatte sich an den Tisch gesetzt. Sie hatte die Hände vor sich auf den Tisch gefaltet und schaute sich im Raum um. Doch Kia erkannte, dass sie sich nicht wirklich für die Umgebung interessierte, sondern lediglich ab und an die Nase rümpfte oder ihrer Mutter schweigend zustimmte.
„Kia, zeig uns doch einmal das Stück aus der letzten Stunde.“, verlangte Maeng. Kia verschränkte die Arme vor der Brust. Suna stierte sie wütend an und gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, dass sie besser die Geige nahm und anfing zu spielen, wenn ihr ihr Leben lieb war.
Kia nahm die Geige, platzierte sie auf ihrer Schulter und spielte den ersten Ton.
„Nein, nein. Falsch, falsch!“, unterbrach Maeng sie sofort. „Du musst die Geige streichen und nicht kratzen.“
Erneut setzte Kia zum ersten Ton an.
„Also so wird das aber nichts, meine Liebe.“, zeterte Maeng.
Wütend ließ Kia die Geige auf den Boden fallen. Ihre Mutter japste auf, Gemma starrte sie regungslos an und Maeng schüttelte missbilligend den Kopf.
„Nun ja, Talent wird eben nicht jedem in die Wiege gelegt.“, stellte sie fest.
Suna eilte auf Kia zu, doch diese wich ihrer Mutter aus, rannte zum Flur, riss ihre Jacke vom Haken und schlug die Tür hinter sich ins Schloss.
Die eisige Kälte brannte in ihren Lungen, als sie durch die weißen Straßen lief, in denen eine bedrückende Stille herrschte. Sie war sich sicher, ihre Mutter würde ihr nicht nachkommen und so verlangsamte sie schon bald ihr Tempo. Sie war zu wütend um zu weinen. Sie war verletzt. Nicht Maeng’s Worte waren es, die sich wie Eiszapfen in ihr Herz bohrten, sondern die traurigen Blicke ihrer Mutter, wenn sie Maeng zustimmte und sich für ihre eigene Tochter zu schämen schien.
    Es gab Nächte, da lag Kia lange wach. Dachte daran, wie es wäre, wenn sie mehr wie Gemma war. Sie wollte, dass ihre Mutter stolz auf sie war. Aber, was sie auch versuchte, sie konnte nicht wie Gemma sein und je mehr sie es versuchte, um so weniger klappte es. Sie hasste Gemma so sehr, dass sie schon ein schlechtes Gewissen bekam und manchmal dafür betete, dass ihr nichts geschehen würde, auch wenn Kia sich oft das Gegenteil wünschte.
Kia erreichte den kleinen Park nahe der Grundschule. Weit und breit war kein einziger Mensch zu sehen. Die Stadt schien im Winter oft wie ausgestorben zu sein.
Sie erreichte das kleine Baumhaus, das Tay mit seinem Vater im Sommer gebaut hatte. Sie kletterte die Leiter hinauf und atmete die vertraute Luft des Holzes ein. Es war eiskalt im Baumhaus. Sie legte sich einige Decken um den Körper und kauerte sich auf den Boden vor das Fenster. 
Ein leises Quietschen riss Kia aus ihrem Schlaf. Ein dunkler Schopf Haare wurde durch den Türspalt gesteckt. Neugierig spähten ein Paar braune Augen in das Innere und begutachteten eine verträumte Kia, die sich den Schlaf aus den müden Augen rieb.
„Dachte ich mir doch, dass du hier bist.“, meinte Tay und verschloss die Tür hinter sich.
„Deine Mutter hat bei uns angerufen und gesagt, dass du weggelaufen bist.“, erklärte er und ließ sich auf den Boden vor dem kleinen elektronischen Keyboard nieder. Er drehte es um, zog ein Paar Batterien aus seiner Jackentasche und steckte sie hinein.
Sobald Tay begann die Tasten zu drücken, war Kia’s Kummer wie weggeblasen. Sie liebte seine fröhlichen Melodien und schaute nur zu gern dabei  zu, wie seine Finger über das Keyboard tanzten.
„Hast du das Stück neu gelernt?“, fragte sie ihn und rutschte über den Boden zu ihm heran.
Tay nickte und schmunzelte. Er wusste nur zu gut, wie er Kia aufmuntern konnte.
„Ich wünschte ich könnte auch Klavier spielen.“, seufzte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Tay unterbrach sein Spiel. Einige Sekunden herrschte Stille.
„Du weißt doch gar nicht ob du spielen kannst.“, meinte er und schielte zu ihr hinunter.
„Ich kann nicht einmal Geige spielen. Ich würde sagen, ich bin musikalisch ziemlich unbegabt.“, sagte sie matt.
„Hier.“, sagte Tay und drückte Kia sein Notenheft entgegen. „Behalte es ruhig.“, fügte er hinzu. Zögernd nahm sie das Heft entgegen.
„Brauchst du es nicht?“, fragte sie.
Tay schüttelte den Kopf. „Ich habe schon alle Stücke durch.“, beteuerte er.

Wann immer Kia Zeit fand, besuchte sie das eisige Baumhaus im Park. Sie studierte die Notenblätter, die Tay ihr überlassen hatte und wagte sogar erste Versuche das Keyboard zu spielen. Noten lesen konnte sie. Auch wenn sie nicht gut mit der Geige war, war ihr das Noten lernen nie schwer gefallen. Es war ein eigenartiges Gefühl die Finger auf die kühlen schwarzen und weißen Tasten zu legen. Es dauerte eine Weile, da erkannte sie die ersten Lieder wieder. Allerdings klang es nicht halb so gut, wie wenn Tay spielte.
Doch obwohl es nicht perfekt war, verspürte sie nicht den Drang danach aufzugeben. Nein ganz im Gegenteil war sie motivierter denn je. Sie wollte spielen und spielen, bis es so gut klang wie bei Tay. Sie hatte das eigenartige Wissen, dass sie es erreichen konnte. Vorher hatte sie lange versucht Geigenstücke auf dem Niveau von Gemma zu spielen und war daran kläglich gescheitert. Doch diesmal schien es etwas anderes zu sein. Sie empfand tatsächlich Freude beim Spielen. Vielleicht lag es nur daran, dass sie nicht unter dem Zwang ihrer Mutter und unter der Beobachtung des Musiklehrers stand. Pavlo war zwar ein begnadeter Lehrer, doch Kia hatte von Anfang an eine Art Abneigung verspürt. Er hatte weder sie noch Gemma bevorzugt, er war immer fair, hatte Geduld und man konnte seine Leidenschaft förmlich sehen. Seine Augen glühten und funkelten, wenn er die Geige auf seine Schulter legte und mit dem Bogen über die Saiten strich.
Es war das gleiche Funkeln, das auch Tay in den Augen hatte, wenn er Klavier spielte. Das war es, was Kia immer wollte. Sie wollte nicht gut sein, oder zumindest nicht besser, als irgendwer anderes. Sie wollte nur das Funkeln haben, das unweigerliche Leuchten, die Freude und die Zufriedenheit. Sie war sich sicher, dass Suna stolz auf die wäre, wenn sie beim Spielen strahlen würde. Auch, wenn Maeng das wahrscheinlich ganz anders sah. Bei diesem Gedanken fiel ihr auf, dass auch Gemma das Leuchten in den Augen hatte. Und sofort schien sie zu wissen, warum ihr das Geigespielen so lag und sie selbst sich dermaßen schwer tat. Sie war nicht bei der Sache und wenn sie ehrlich war, dann hasste sie nicht nur die Unterrichtsstunden mit Gemma, sondern die Geige im allgemeinen. Nicht, dass es nicht schön klang - doch für sie selbst war es einfach das falsche Instrument.


Weihnachten 2006

Suna hängte gerade die letzten Ornamente an den reich geschmückten Weihnachtsbaum. Bunte Kugeln in den verschiedensten Farben reflektierten das Licht der Lichterkette und funkelten mit einem warmen und einladenden Glanz. Auf der Spitze der großen Tanne, die sich beinah bis zur Decke des Wohnzimmers erstreckte, prangte ein silberner Stern.
„Bist du fertig?“, rief Suna ihrer Tochter zu, die in diesem Moment die Treppe hinunter gelaufen kam.
„Ich muss noch einmal weg.“, meinte sie, griff nach ihrem Mantel und wollte das Haus verlassen.
„Warte!“, hielt Suna sie auf, bevor sie aus der Tür stürmen konnte. „Wo willst du denn jetzt noch hin?“, fragte sie und schaute Kia verblüfft an.
„Ich muss zu Tay.“, entgegnete diese und wickelte sich den Schal um den Hals.
„Jetzt noch? Wir wollen doch gleich Kuchen essen. Dein Vater müsste auch gleich hier sein.“, versuchte sie Kia zu überzeugen.
Doch sie schüttelte nur hastig den Kopf, riss die Haustür auf und lief in die weiße Winterwelt hinaus. „Dauert auch nicht lange.“, rief sie ihrer Mutter über die Schulter zu und eilte los.
    Schneeflocken tanzten in der Luft und bahnten sich ihren Weg auf die Erde, wo sie zu einer dicken, flauschigen Decke wurden.
Tay wartete bereits vor dem großen Baum, in dem sich das Baumhaus befand. Er lief wartend auf und ab. Die Hände tief in den Taschen vergraben, die Mütze in die Stirn gezogen. Er sah aus wie ein kleiner, runder Ball. Als er Kia erblickte, lächelte er sie freudestrahlend an. Er winkte mit seinen Fausthandschuhen und sprang auf und ab.
„Endlich!“, prustete er, als Kia keuchend vor ihm anhielt. „Meine Mutter war gar nicht begeistert.“, erklärte er und verdrehte die Augen.
„Meine auch nicht.“, grinste Kia. „Aber ich muss es erst dir zeigen.“, meinte sie und kletterte vorsichtig die Leiter zum Baumhaus hinauf.
„Sei vorsichtig! Die Sprossen sind bestimmt gefroren.“, meinte Tay und eiferte ihr sofort nach.
Kia setzte sich vor das kleine Keyboard. Sie streckte ihre Hände aus und Tay reichte ihr ein neues Paar Batterien, welches sie behutsam in das dafür vorgesehene Fach schob. Sofort glimmte die kleine Lampe rot auf. Sie nahm das Notenheft, stellte es auf den Ständer und blätterte eine der hinteren Seiten auf. Währenddessen hatte es sich Tay auf einer Decke bequem gemacht. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtete das Treiben vor sich.
„Warte noch kurz.“, meinte Kia. Sie starrte auf die Tasten und drückte wahllos einige davon herunter.
„Das klingt aber nicht so toll.“, witzelte Tay.
Wütend fuhr Kia herum und stierte ihn an. „Ich hatte doch auch gesagt du sollst kurz noch warten.“, blaffte sie ihn an.
Tay lachte nur.
„Ich bin eben nervös.“, meinte Kia schließlich.
„Wieso denn das?“, wollte Tay wissen.
„Dass ich schlecht bin und du mich auslachst.“, erwiderte sie und senkte den Kopf.
„Als ob ich dich auslachen würde.“, sagte Tay erstaunt.
„Ich weiß ja, aber wenn immer ich vor meiner Mutter und Maeng gespielt habe, war ich nicht gut genug.“
Die Anspannung saß in ihren Knochen. Sie hatte so viel gelernt und gespielt, dass sie fast das gesamte Heft an Liedern spielen konnte. Doch es war etwas anderes nur für sich selbst zu spielen. Jetzt saß Tay hier. Derjenige, der all diese Lieder perfekt beherrschte und der sicher hören würde, wenn sie einen Fehler machen würde. Sie wollte sich selbst und ihm beweisen, dass sie etwas konnte, wenn sie an sich selbst glaubte. Auch wenn es bis jetzt immer den Anschein gehabt hatte, dass sie erst nach Gemma kam, glaubte Kia etwas gefunden zu haben, in dem sie besser war als sie. Und endlich würde ihre Mutter sie anerkennen. Und auch Maeng würde verblüfft gucken und vor Neid ganz blass werden, weil ihre ach so perfekte Tochter einmal etwas nicht konnte, was Kia konnte.
Kia biss die Zähne zusammen. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und legte ihre Finger auf die Tasten. Dann begann sie zu spielen. Sie summte das Lied in ihrem Kopf, verfolgte die kleinen schwarzen Punkte auf dem Papier und brachte sie zum Ertönen.
„Wow.“, hauchte Tay, als das Stück zu ende war.
„War das okay?“, wollte Kia wissen.
„Das war unglaublich.“, meinte er und rutschte über den Boden näher an sie heran. „Wie oft bist du denn hier gewesen, dass du das plötzlich kannst.“, fragte er.
Kia zuckte mit den Schultern. „Hin und wieder.“, sagte sie beiläufig und freute sich über Tay’s Kompliment.
„Du musst das unbedingt deiner Mutter vorspielen.“, meinte er.
„Meinst du?“, fragte Kia zögernd.
Tay nickte kräftig. „Unbedingt!“
„Es wäre so schön, wenn sie mich dann nicht mehr zum Geigespielen zwingt.“, meinte Kia etwas traurig. Sie schaltete das Keyboard wieder aus. Gemeinsam verließen Tay und sie das Baumhaus. Auf dem Sandweg sollten sich ihre Wege wieder trennen.
„Wenn deine Mutter jetzt nicht kapiert, dass die Geige nichts für dich ist, komme ich persönlich vorbei und werfe sie in euren Kamin.“, sagte Tay und gestikulierte dabei mit den Händen in der Luft herum. Er deutete an, wie die Geige im Feuer mit einer großen Stichflamme verbrannte. Zufrieden grinste er sie an.
„Danke, Tay.“, meinte Kia.
„Wofür?“, wollte Tay überrascht wissen.
„Dafür, dass du mein bester Freund bist. Und dass du mir gezeigt hast, dass ich doch kein musikalisches Wrack bin.“, sagte sie und schlang dem dick eingepackten Tay die Arme und den Körper. 


... Fortsetzung folgt.


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