Donnerstag, 11. Dezember 2014

Piano Girl - Im Herzen spielt die Musik - KAPITEL 1

Als der Wecker mich an diesem Morgen zum dritten Mal aus dem Schlaf riss, stellte ich mit Erschrecken fest, dass es schon ziemlich spät geworden war. Schnell sprang ich aus dem Bett, kämmte mir kurz durch die Haare, legte etwas Makeup auf und zog einen bequemen Pullover an. Auf dem Weg zur Haustür machte ich noch einen Abstecher in die Küche, griff mir einen Apfel, schnappte meine Lederjacke vom Haken und eilte mit dem Schlüssel in der einen und meinem Rucksack in der anderen Hand aus dem Haus.
Inna wartete bereits auf mich. Sie saß mit Sonnenbrille in ihrem himmelblauen Cabrio. Obwohl es schon recht kalt geworden war und der Herbst sich so langsam einschlich, weigerte Inna sich, das Verdeck zu schließen. Sie war der Meinung, dass dafür noch genug Zeit wäre, sobald der erste Regen einsetzen würde.
„Bereit für deinen ersten Tag?“, fragte sie und schaute mich neugierig an.
Ich seufzte und nickte schließlich.
Es war ein Jahr her, da hatte ich zuletzt diese Schule betreten. Jeder dort wusste, warum ich fort gewesen war und jeder würde mich beäugen. Schon jetzt drehte sich mir der Magen um. Ich biss in meinen Apfel und genoss den Fahrtwind, als Inna durch die Straßen brauste, eine Hand am Lenkrad, die andere hing lässig aus dem Wagen.
„Das wird schon alles werden.“, meinte sie beruhigend, da sie meine Anspannung spürte. „Ich hoffe nur du erschreckst dich nicht…“, gab die anschließend zu bedenken und kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
Fragend blinzelte ich sie an.
„Die Schule hat sich ganz schön verändert.“, sagte sie knapp und zuckte mit den Schultern. Ich beschloss nicht weiter nach zu fragen, da mir Inna’s Hang zu Übertreibungen einfiel. Dennoch wurde das Gefühl in meiner Magengegend immer schlimmer, je näher wir der Schule kamen.
Als wir schließlich auf dem Parkplatz einrollten, erblickte ich zum ersten Mal seit einem ganzen Jahr in vertraute Gesichter. Aber auch eine Menge neuer Schüler schienen sich an der Prideston eingenistet zu haben. Ich blickte mich neugierig um und zuckte unwillkürlich zusammen, als ich ein blondes Mädchen neben dem Eingang erkannte.
„Ja, du hast richtig gesehen. Hana ist zur Barbie mutiert.“
Mit großen Augen beobachtete ich, wie Hana zwei ihrer Freundinnen begrüßte und sie sich gemeinsam in das Schulinnere verzogen. Ich hatte Hana als graue Maus in Erinnerung. Sie hatte damals Jeans und T-Shirt getragen, hatte strähnige braune Haare und so gut wie nie gesprochen. Diese blonde Version in enger Röhre, Stiefeln und Lederjacke stimmte mit meiner bekannten Version überhaupt nicht überein.
„Kurz nachdem du weg warst, hat sie sich die Haare gefärbt und hat so etwas wie ein komplett Makeover hinter sich. Jetzt ist sie total hinter…“, Inna stockte. Dann grinste sie etwas gequält. Sie packte mich am Arm und zog mich Richtung Schulgebäude.
„Ach genug des Geredes.“, plapperte sie unruhig.
Bevor ich mich auf den Weg ins Büro machte, um meinen neuen Stundenplan entgegen zu nehmen, räumte ich noch meine alten Bücher in meinen Spind. Glücklicherweise hatte ich meinen behalten dürfen.
    Gemeinsam schlenderten Inna und ich durch die Schulflure. Ein seltsames Gefühl breitete sich in mir aus. Ich kam mir gefangen und fehl am Platz vor. Ich war den Tränen nah und schluckte stetig den Kloß in meinem Hals hinunter. Ich spürte die Blicke der anderen auf mir und wäre am liebsten sofort wieder nachhause gefahren. Ich hatte mich überhaupt nicht auf diesen Tag vorbereitet. Aber ich hatte mir auch gewünscht er würde nie eintreten. Ich hasste es in dieser Situation zu sein, aber niemand schien mich zu verstehen.
Plötzlich griff Inna nach meinem Arm und drehte mich zu sich herum.
„Was ist?“, fragte ich perplex.
Inna stotterte nur herum. Ich kniff verwirrt die Augen zusammen und sah sie an. Ich wurde aus ihr nicht schlau. Irgendwie benahm sie sich seltsam komisch.
„Okay, es lässt sich wohl nicht vermeiden.“, meinte sie dann und nickte mit dem Kopf in Richtung des Schulbüros. Ich drehte mich langsam um und schaute durch die Glastür ins Innere. Einige Schüler saßen auf der Bank und warteten, dass sie an der Reihe waren. Eine Sekretärin, die ich noch nie gesehen hatte, telefonierte und fuchtelte dabei wild mit den Händen herum. Die andere sprach gerade mit einem Schüler. Seine langen Beine steckten in einer schwarzen Hose. Er trug eine schwarze Lederjacke unter der ein rotes Karohemd herausguckte. Er kam mir bekannt vor, aber ich konnte nicht zuordnen wieso. Seine Bewegungen waren so vertraut und doch hätte ich schwören können ihn noch nie gesehen zu haben.
„Prideston's zweite große Überraschung neben Hana.“, meinte Inna. In dem Moment drehte sich der Junge um und schritt auf die Tür zu. Sein dunkles Haar fiel ihm tief in die Stirn. Als hätte er meinen Blick gespürt, fuhr er sich mit der Hand durch die Strähnen. Er öffnete die Tür, schwang in diesem Moment seinen Rucksack über eine Schulter und ging geradewegs auf Inna und mich zu. Sein Blick war so unglaublich intensiv, dass ich wie angewurzelt im Flur stand. Seine braunen Augen waren von einem dichten Kranz Wimpern gerahmt. Sein elfenbeinfarbenes Gesicht war von tiefen Schatten geprägt und seine vollen Lippen waren einen Tick zu blass. Als sich unsere Blicke trafen, verzog sich sein Mund zu einem schiefen Lächeln. Dann war er weg, hinter uns im Gang verschwunden.
„Wir haben einen neuen Vampirschüler bekommen?“, fragte ich.
Inna lachte. „Wieso denn neu? Hast du ihn denn nicht erkannt?“, fragte Inna plötzlich ernster. Wir beide drehten uns um und schauten ihm nach, bis er in der Masse der Schüler untergegangen war.
Ich schüttelte den Kopf.
„Das war Tay.“
Mein Mund klappte auf.
„Das kann nicht sein.“, hauchte ich.
Ich hatte ja schon erlebt, dass Kinder aus ihren zu großen Ohren rauswachsen waren, oder sie plötzlich ihr Babyspeck verloren und mit schönen Wangenknochen versorgt waren. Aber das, was ich gerade gesehen hatte, war eine Veränderung, die mir weismachen wollte innerhalb eines einzelnen Jahres stattgefunden zu haben. 
„Er ist seine Zahnspange losgeworden, hat Sport gemacht und ist Leadsänger von ‚Legit‘.“, erklärte Inna meine unausgesprochenen Fragen.
„‚Legit‘?“, fragte ich.
„Prideston’s erste zugelassene Rockband.“, meinte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich erklär’s dir in der Mittagspause. Bis dahin musst du leider ohne mich überleben.“ Sie grinste und machte sich auf den Weg in ihr Klassenzimmer. Eine Weile schaute ich ihr noch nach, dann widmete ich mich der Sekretärin und bekam meinen Stundenplan ausgehändigt.
„Miss?“, fragte die blonde Sekretärin. „Mr. Sang möchte mit Ihnen sprechen.“, sagte sie und deutete auf eine Tür zu ihrer rechten. Ich nickte nur, klopfte an die Tür und wurde kurz darauf von Mr. Sang herein gebeten.
„Miss Ahn.“, begann er und seufzte. „Ich kann ihren Stundenplan so leider nicht gelten lassen.“, sagte er und beugte sich über den Tisch.
Ich blickte ihn stumm an.
„Sie haben kein einziges Musikfach gewählt.“, erklärte er.
„Doch. Ich habe Musikgeschichte.“, meinte ich, legte meinen Stundenplan vor ihn hin und deutete auf das blaue Feld in dem in kursiver Schrift „Musikgeschichte“ stand.
Er schloss die Augen und sog scharf die Luft ein.
„Ich denke Sie wissen wie ich das meine.“, sagte er schließlich und sah mich dann durchdringend an.
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich werde nicht mehr spielen.“, sagte ich knapp.
„Ich befürchte das müssen Sie aber.“, sagte er. „Sie können auch ein anderes Instrument wählen, wenn Sie…“, fuhr er fort, doch ich unterbrach ihn. „Auf keinen Fall.“, meinte ich schroff. Ich kniff wütend die Augen zusammen und stierte ihn an.
„Miss Ahn. Wir sind eine Schule mit dem Schwerpunkt Musik. Dies setzt voraus, dass Sie ein Instrument spielen.“
„Wo steht das?“, wollte ich wissen.
„Nun machen Sie es mir doch nicht so schwer.“, jammerte er.
Sein graues Haar stand wirr von seinem Kopf ab und seine Brille schwankte derart locker auf seiner Nase, dass ich schon befürchtete, sie würde jeden Augenblick herunter fallen.
„Was an ‚Ich werde nicht mehr spielen‘, haben Sie nicht verstanden?“
„Ihnen fehlen aber Stunden.“, versuchte er dann und beäugte meinen Stundenplan.
Ich zog die Augenbrauen hoch. „Nein. Ich habe genug Stunden. Darauf habe ich schon geachtet.“, meinte ich und schob das Papier dichter zu ihm heran.
Er rieb sich nervös die Schläfen.
„Mr. Sang. Entweder Sie akzeptieren meinen Stundenplan so, oder Sie werfen mich raus.“, sagte ich und erhob mich von meinem Stuhl. Ich schnappte ihm den Zettel weg und verließ sein Büro. Genervt eilte ich durch die Flure zu meiner ersten Stunde. Als ich endlich das Klassenzimmer erreichte, war ich heilfroh, dass sich schon eine große Menge an Schülern hier angesammelt hatte. So würde ich weniger auffallen. Ich verkrümelte mich in die letzte Reihe und wartete bis der Unterricht endlich losgehen würde.
Ich hatte schon erwartet, dass Mr. Sang es nicht einfach so hinnehmen würde, dass ich jegliches Instrument ablehnte. Aber das war nun einmal meine Entscheidung und die hatte er zu akzeptieren. Nicht nur, dass ich nie wieder so gut sein würde, wie ich es einmal war. Nein, ich hätte dies auch noch vor der gesamten Schule zu tragen. Vielleicht war das Klavier einmal mein Lebensinhalt gewesen. Und wahrscheinlich hätte ich zu diesem Zeitpunkt auch gemeint, es wäre das Wichtigste gewesen, was ich hatte. Aber so wie Hana und Tay innerhalb eines Jahres zu Models mutiert waren, hatte ich eben das Klavier aufgegeben. Ich konzentrierte mich jetzt eben auf den geschichtlichen Teil der Musik. Ich musste nur den Abschluss hinter mich bringen und dann konnte ich machen, was ich wollte. Nur dass ich gar nicht wusste, was das überhaupt war.
    Mein Traum war es einmal gewesen große Konzerte zu geben. Säle zu füllen, Menschen zu begeistern. Ich wollte spielen und spielen, bis meine Finger Wund waren und bis es kein Lied mehr gab, das zu schwer für mich war. Ich wollte in Menschen Erinnerungen wecken, sie zum Weinen und zum Lachen bringen. Aber das ging nun eben nicht mehr. Es musste ein neuer Traum her. Und das möglichst schnell.
„Sieh’ an. Unser Ausnahmetalent ist zurück.“, säuselte Hana mit gespielter Höflichkeit. Sie ließ sich auf den freien Platz neben mir nieder. Ich schielte nur einmal kurz zu ihr hinüber, entschied mich aber, vorerst nicht auf ihre blöden Sprüche einzugehen.
„Ich habe gehört du hast deine Karriere an den Nagel gehängt?!“, fuhr sie fort und ich konnte ihren durchdringenden Blick spüren.
Ich schaute sie an, sagte aber nichts.
„Selbst wenn du noch spielen würdest, bist du längst nicht mehr der Star dieser Schule.“, meinte sie und grinste boshaft. Vielleicht war ich auch nur paranoid und bildete mir ein, dass Hana ziemlich hinterlistig und schadenfroh klang.
„Aber sag mal, wenn du nicht mehr spielst, was machst du dann noch hier?“, fragte sie und blinzelte mich mit großen Kulleraugen an.
„Na, Hana. Nervst du schon am ersten Tag wieder die Leute?!“, hallte eine männliche Stimme durch das Klassenzimmer. Hana fuhr hastig herum und sprang von ihrem Stuhl auf.
„Tay!“, japste sie.
Tay schob sich mit seinen schlanken, langen Beinen an den Tischen vorbei und setzte sich in eine der vorderen Reihen.
Hana ließ sich derweil mürrisch auf ihren Stuhl fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. So richtig verstand ich nicht, was Hana’s Problem war, aber allen Anschein nach, passte es ihr nicht in den Kram, dass Tay sie ermahnt hatte.
Zu meinem Glück ignorierte sie mich den Rest der Stunde. Mrs. Jun plapperte aufgeregt von irgendwelchen Vögeln, die sie in den Ferien beobachtet hatte. Sie war so abgelenkt, dass sie gar nicht mitbekam, dass die Hälfte der Klasse, einschließlich mir, die Köpfe auf den Tischen hatte und dabei war einzuschlafen. 
    Als endlich Mittagspause war, konnte ich gar nicht schnell genug aus dem Klassenzimmer fliehen und machte mich auf die Suche nach Inna.
Ich schlang meine Portion Reis förmlich hinunter und drängte Inna mir mehr von ‚Legit‘ zu erzählen.
„Ist ja gut.“, gab sie endlich nach. „Sie sitzen immer dort drüben.“, meinte sie und schielte mit dem Kopf nach links geneigt zu einem der Tische hinüber. „Schau nicht zu offensichtlich hin.“, ermahnte sie mich. Vorsichtig lugte ich zu dem Tisch hinüber, an dem sich gerade eine Gruppe Jungen niederließ. Tay entdeckte ich allerdings nicht.
„Siehst du den Typen mit dem Laptop?“, fragte sie mich. Ich nickte kurz und wandte den Blick sofort wieder von dem Tisch ab, was mir im übrigen ziemlich bescheuert vorkam.
„Das ist Kien, der Keyboarder. Er ist kurz nach deiner Abreise hierher gewechselt und hat das Ganze wohl ins Rollen gebracht. Trotzdem ist er der Zurückhaltendste von allen.“
„Kien der Keyboarder.“, wiederholte ich und musste lachen.
Inna verstand meinen Witz erst einige Sekunden später und fing schließlich auch an zu lachen. Sie schüttelte de Kopf und fuhr fort: „Der mit den Locken. Das ist Luan. Er ist der Bassist und der totale Mädchenschwarm. Letztes Jahr wurde er fast einheitlich zum Bestaussehendsten der 10. Klasse gewählt.“
Ich konnte es mir nicht nehmen und begutachtete Luan etwas genauer. Und tatsächlich hatte er etwas Umwerfendes an sich. Die wilden, blonden Locken und seine großen Augen ließen ihn niedlich und unschuldig wirken. Im Kontrast dazu standen seine muskulösen Arme und die mit Nieten besetzte Jeansjacke.
„Der, der an seinem Handy zugange ist.“, schmatzte Inna. „Das ist Kris. Er ist der Gitarrist und jetzt in der 12. Alle fragen sich, was die Band ohne ihn machen wird. Oder ob er wiederholt oder so.“
„Fällt er denn durch?“, fragte ich irritiert.
Inna’s Antwort war eine Mischung aus einem Schulterzucken und Kopfschütteln. Ich hob fragend die Augenbraue und widmete mich meinem Gurkensalat.
„Lass mich raten, der Typ mit den Sticks ist der Drummer.“, lachte ich.
„Chen. Der heimliche Anführer der Band. Natürlich ist Tay der Leader, aber man munkelt, dass im Grunde Chen die Fäden zieht und Tay nur das Aushängeschild ist, quasi eine Marionette.“
„Und glaubst du das?“, wollte ich wissen.
„Nicht unbedingt. Ich meine, ich kenne Tay nicht so gut, aber er wirkt auf mich nicht wie jemand, der sich von anderen was sagen lässt.“, meinte sie.
Stumm schaute ich zu dem bunten Treiben am Bandtisch hinüber. Noch immer war Tay nicht bei ihnen aufgetaucht. Ich musste mir eingestehen, dass diese vier Jungs eine ganz schöne Ausstrahlung hatten. Wären wir jetzt in so einem amerikanischen Teenie-Film gewesen, wären sie auf jeden Fall die beliebten Kids gewesen, mit denen jeder abhängen wollte. 

Als der Unterricht endlich zu Ende war, wanderte ich durch die Korridore der Schule. Inna hatte noch eine Besprechung und ich hatte beschlossen auf sie zu warten. Es war ein unangenehmes Gefühl durch die Schule zu gehen. Das Gefühl vom Morgen war nicht verschwunden. Noch immer fühlte ich mich unwohl und falsch. Gedankenverloren zog ich Treppen hinauf und Gänge entlang, bis ich mich schließlich vor dem Klavierraum wieder fand. Ich blieb wie angewurzelt stehen und schaute durch das schmale Fenster der Tür in das Rauminnere. Das Klavier stand dort einsam und unberührt. Meine Hände fingen an zu zittern. Mir wurde schwindelig und heiß. Ich schloss die Augen, sog scharf die Luft ein und wandte mich langsam zum Gehen. Leise Musik fing meine Aufmerksamkeit. Ich folgte der Melodie. Sie wurde immer lauter und ich erkannte den Klang einer Gitarre. Ich erreichte den großen Musikraum. Leider konnte ich nicht hineinsehen, da die Jalousien des Fensters hinunter gelassen waren. Ich stellte mich dicht an die Tür und versuchte durch den schmalen Spalt, den die Jalousie freiließ, zu sehen. 
„Ich komm’ gleich wieder.“, hallte eine Stimme durch die Tür. Viel zu spät reagierte ich und prallte mit jemandem zusammen, als er die Tür aufriss und in den Flur trat. Ich landete rücklings auf dem Hintern. Ich stöhnte kurz auf.
„Huch?!“, japste eine männliche Stimme. Er reichte mir die Hand und als ich aufsah, erblickte ich Luan’s Lockenkopf.
„Du bist bestimmt neu hier.“, meinte er. „Die Bandproben finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.“, grinste er.
„Tschuldigung.“, stotterte ich nervös und klopfte mir den imaginären Staub von der Kleidung.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er und legte mir dabei eine Hand auf die Schulter. Meine Knie wurden weich. Ich nickte heftig.
„Mit wem redest du? Ist da jemand?“, drang eine Stimme aus dem Proberaum und sofort erkannte ich, dass es Tay’s Stimme war.
„Nein, nein.“, sagte er hastig. „Du solltest lieber gehen.“, sagte er freundlich aber bestimmt. Ich nickte und ging schnell zurück durch den Gang. Genau in diesem Moment trat Tay aus der Tür und schaute mir verwundert nach.
Den Rest der Woche ignorierte Hana mich zu meiner Erleichterung. Aber auch Tay schenkte mir keine Aufmerksamkeit. Ich fragte mich, ob er noch wusste wer ich war. Ich fand es schon etwas seltsam, dass Inna mich nicht auf ihn ansprach. Sie wusste schließlich, wie eng ich mal mit Tay befreundet war. Aber dies alles schien wie weggewischt zu sein. Ich war nur noch ein niemand. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass ein Niemand zu sein um einiges besser war, als von allen wie von Hana behandelt zu werden. Auch, dass Luan mich offensichtlich für eine neue Schülerin gehalten hatte, gefiel mir. Es bedeutete einen Neustart.
Ich starrte auf den Sekundenzeiger der Uhr. Hana tippte auf ihrem Handy herum. Einige Schüler schliefen wie gewöhnlich. Tay war diese Stunde nicht anwesend. Nervös trommelte ich mit den Fingern auf der Holzplatte herum. Ich wollte, dass dieser Tag endlich endete. Ich wollte nachhause, in mein Bett und mich unter meiner Decke verkriechen. Am liebsten wäre ich gar nicht mehr zur Schule gegangen, aber das hätte meine Mutter niemals zugelassen. Ich hatte ihr sogar vorgeschlagen die Schule zu wechseln, aber auch dies lehnte sie strikt ab. Jegliche Diskussionen mit ihr führten zu rein gar nichts.
Endlich ertönte die erlösende Schulglocke. Wie in Zeitlupe packte ich meine Sachen zusammen und verließ das Klassenzimmer. In den Fluren herrschte schon eine große Aufregung. Alle tuschelten wild miteinander und drängten Richtung Foyer.
Ich räumte noch meine Bücher in meinen Spind und versuchte aufzuschnappen, was die anderen tuschelten. Der Andrang im Foyer wurde immer größer.
„‚Legit‘ gibt heute ein Konzert.“, brüllte schließlich jemand durch die Schule. Die Lautstärke wurde unerträglich. Die Mädchen schrieen, als handle es sich tatsächlich um irgendwelche Berühmtheiten und selbst die Jungen schienen vollends begeistert zu sein. Ich drängte mich durch die Menschenansammlung zum Ausgang. Ich erhaschte nur kurz einen Blick auf die Poster, die nun das Foyer zierten.
Als ich ins Freie trat fiel eine große Last von mir ab. Die erste Schulwoche hatte ich endlich hinter mir. Ich eilte die Treppe hinunter, da kam eine Gruppe Jungs lachend auf mich zu. Ich versuchte noch auszuweichen, aber wurde glatt umgerannt. Ich verlor das Gleichgewicht und schwankte nach vorn, da wurde ich zur Seite gerissen. Ich hatte mich schon die Treppe hinunter fallen sehen.
„Wow, ich renne ganz schön oft in dich hinein.“, lachte Luan. Doch in seinem Gesicht lag etwas Entschuldigendes. Die Jungs um uns herum waren still geworden und starrten uns an. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mehr oder weniger in Luan’s Armen lag. Ich schob ihn von mir und lächelte ihm etwas gezwungen zu, ehe ich mich wieder meinem eigentlichen Ziel widmete und die Treppe hinunter hastete.
Luan heftete sich an meine Fersen.
„Du hast aber ein ganz schönes Tempo drauf.“, lachte er.
Ich beachtete ihn nicht weiter.
„Musst du irgendwo dringend hin?“, wollte er wissen, während er mit mir Schritt hielt.
„Nachhause.“, sagte ich.
„Soll ich dich mitnehmen.“, fragte er dann.
Ich wurde langsamer und blieb schließlich stehen.
„Das würdest du machen?“, fragte ich.
Luan nickte. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Sein blondes Haar fiel ihm in die Stirn. Seine dunklen, runden Augen glitzerten in der Nachmittagssonne in verschieden Brauntönen, die nach leckerer Schokolade aussahen.
„Na komm.“, meinte er und winkte mich mit zum Parkplatz. Mir blieb nicht verborgen, dass wir auf dem kurzen Weg von eigentlich Jedem angestarrt wurden, an dem wir auch nur annähernd vorbei gingen. Ich wollte eh nur mit ihm mitfahren, weil es meinen Weg um einiges verkürzen würde.
„Muss nervig sein.“, sagte ich matt.
„Was?“
„So angestarrt zu werden.“
Er zuckte mit den Schultern und lachte.
Luan startete den Motor. Ich nannte ihm meine Adresse und das Auto rollte vom Parkplatz. Die Fahrt über schaute ich stumm aus dem Fenster und auch Luan schien nicht wirklich zu wissen, worüber er mit mir reden soll.
„Sag mal, ich will nicht aufdringlich wirken oder so…“, begann er seinen Satz. Ich blickte ihn fragend an. Er kaute unsicher auf seiner Unterlippe herum.
„Hast du vor wieder Klavier zu spielen?“, fragte er schließlich. Ich war von dieser Frage etwas überrascht. Er hatte es bis jetzt so aussehen lassen, als wüsste er nicht wer ich war. Aber vielleicht hatte er inzwischen von den anderen davon mitbekommen.
„Die ganze Schule weiß wahrscheinlich schon davon.“, sagte er dann und beantwortete damit meine Frage woher er davon wusste.
„Du bist schließlich wieder auf der Schule. Also solltest du wohl auch ein Instrument spielen.“, sagte er. Ich konnte seine Unsicherheit spüren und ich wusste auch, dass er solch eine Situation nicht gewohnt war.
„Jedenfalls heute Abend ist ja unser Konzert. Komm doch auch.“, wechselte er das Thema.
„Und dann?“, fragte ich knapp.
„Wow.“, lachte er. „Du bist echt anders.“ Er schüttelte den Kopf.
Irgendwie fühlte ich mich von seiner Bemerkung angegriffen. Ich wusste ja, dass ich etwas mürrisch war. Aber ich hatte ja wohl auch einen guten Grund.
„Ich komme.“, sagte ich dann, da ich ihm die Genugtuung nicht lassen wollte.
Überrascht blickte er mich an. Dann lachte er in sich hinein.
Er hielt den Wagen vor meiner Tür, rief mir noch so etwas wie ‚bis nachher‘ nach und brauste davon. Ich schaute dem Auto noch so lange nach, bis es zu einem kleinen Punkt in der Ferne geworden war.
Erschöpft stakste ich die Treppe nach oben in mein Zimmer und ließ mich mit meinem Laptop auf mein Bett fallen. Es dauerte keine Minute, da hatte ich schon das Profil von ‚Legit‘ im Netzwerk unserer Schule gefunden. Ich klickte durch die Bandmitglieder, die allesamt nicht viel über sich ausgefüllt hatten. Aber das war ja auch schließlich viel cooler und geheimnisvoller wenig über sich preiszugeben. Gut, ich übertrieb, denn auf meinem Profil stand auch nicht gerade viel.
Ich öffnete meine Seite. Ein Mädchen lächelte mir fröhlich entgegen. Ein Mädchen, das ich seit einem Jahr nicht mehr im Spiegel gesehen hatte. Ich löschte das Foto von der Seite. Dann bearbeitete ich noch die Instrumentensparte. Klavier. Jetzt war die Sparte leer. Es fühlte sich an, als wäre ein Teil von mir gerade gestorben. Ein Teil, der nur durch diese Seite noch am Leben gehalten wurde. Aber es war eine Lüge. Das war nicht mehr ich.
    Ich schaute mir schließlich noch Hana’s Profil an. Sie hatte alle ehemaligen Bilder gelöscht. Aber wer konnte ihr das schon verübeln. Irgendwie glaubte ich zu wissen, wie sie sich hatte fühlen müssen. Mit einem seltsamen Zögern klickte ich zuletzt auf Tay’s Profil. Ich wusste nicht genau was mich davon abhielt. Irgendwie hatte ich ein beklemmendes Gefühl, als könnte mir seine Seite eine unschöne Wahrheit unterbreiten.
Ich erinnerte mich an vergangene Zeiten. Ihn zu sehen löste unglaubliche Erinnerungen in mir aus, ließ mich Dinge erleben, die ich glaubte bereits aus meinem Gedächtnis gelöscht zu haben.
Wir waren damals so gute Freunde geworden. Wir hatten so gut wie jeden Tag im Park verbracht. Versteckt in unserem Baumhaus und Klavier gespielt. Doch mit den schönen Erinnerungen, dem Spaß und der Freude, kamen auch die düsteren Zeiten zurück. Sobald wir auf die Prideston gewechselt waren, wurde alles anders. Wir verloren uns aus den Augen. Ich hatte nur noch das Klavier im Kopf. Ich lernte und lernte. Meine Mutter hatte darauf bestanden einen Privatlehrer zu engagieren, der mich nach der Schule zusätzlich unterrichtete. Sie setzte alles daran, dass ich mein Ziel nicht aus den Augen verlor. Doch so blieb Tay auf der Strecke. Der kleine, dickliche Junge mit der Zahnspange war nur noch ein Teil meiner Vergangenheit. Ich hatte keine Zeit mehr mit ihm im Baumhaus zu spielen und auch sonst ging ich ihm aus dem Weg und kostete meinen Status als Ausnahmetalent voll aus. Wie gerecht, dass ich nun mit zwei kaputten Händen gestraft war, während Tay sein Leben und seine Karriere noch vor sich hatte.
Ich lachte bitter in mich hinein. Wie schwer es auch für mich sein musste, ich wollte mir gar nicht ausmalen, was meine Mutter dabei empfand. Ich war ihr bis jetzt aus dem Weg gegangen und hatte Gespräche vermieden. Aber das würde nicht ewig so weiter gehen.

„Mom?“, fragte ich, als wir gemeinsam am Tisch saßen und zu Abend aßen.
Sie blickte von ihrem Teller auf und sah mich an.
Die Stille zwischen uns war ohrenbetäubend und das Ticken der großen Uhr hämmerte unaufhörlich gegen mein Trommelfell.
„Ich geh heute Abend noch weg, ja?!“
„Wohin?“, fragte sie überrascht.
„Welche von meiner Schule geben ein Konzert.“, sagte ich. Weitere Details wollte ich lieber nicht preisgeben, da ich annahm sie würde eine Rockband nicht mehr ganz so klasse finden.
„Wann kommst du wieder?“, fragte sie nur. Ich konnte nicht deuten, ob sie sich freute oder eigentlich dagegen war.
„Das kann ich noch nicht sagen.“
„Soll ich dich bringen und abholen?“, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
„Schreib mir bitte, wenn du dich auf den Nachhauseweg machst.“, meinte sie dann und lächelte mich an.
Ich nickte stumm.
    Nach dem Essen verzog ich mich zurück in mein Zimmer und machte mich in meinem Kleiderschrank auf die Suche nach etwas zum Anziehen. Dabei wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, was man auf einem Rockkonzert überhaupt trug. Soweit ich mich erinnern konnte, war ich noch nie auf einer derartigen Veranstaltung gewesen. Ich wollte auf keinen Fall overdressed sein. 
Ich entschied mich schließlich für eine schwarze Jeans, ein einfaches Top und meine Jacke, die ich schon seit Jahren jeden Tag trug. 


Schon auf der Straße hallte mir die Musik entgegen. Eine der Vorbands quälte gerade die Instrumente. Ich betrat den kleinen Club. Die Luft war verqualmt und stickig. Ich erkannte viele Gesichter aus der Schule wieder. Hauptsächlich hatten sich allerdings Mädchen eingefunden. Sie standen um die Tische herum, kicherten und hielten gespannt nach ‚Legit‘ Ausschau.
Unsicher schob ich mich durch die Mengen. Plötzlich quietschten neben mir einige Mädchen auf, sodass ich mir erschrocken die Ohren zuhielt.
„Hi Luan.“, säuselte die eine.
„Du bist gekommen.“, sagte er zu mir und grinste mich an.
„Hab’ ich dir doch gesagt.“, meinte ich knapp und versuchte möglichst unbekümmert auszusehen. Die anderen Mädchen schauten mich grimmig an und begannen zu tuscheln. Im nächsten Moment war die Vorband fertig und verließ unter magerem Applaus die Bühne. Kien rief nach Luan, der allerdings nicht reagierte.
„Dein Typ wird verlangt.“, meinte ich dann.
Er verzog den Mund, nickte und ließ mich stehen.
„Hey!“, fuhr mich das eine Mädchen an. Sie hatte langes, dunkles Haar, trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck ‚Legit‘ und große schwarze Ohrringe.
„Luan redet nur mit dir, weil du eine Bekanntheit bist. Er braucht dich nicht, also lass’ deine Finger von ihm. Du kannst eh nichts mehr und ein Talent bist du auch nicht.“, giftete sie.
„Ach lass sie doch. Guck’ sie dir doch an. Als ob er von so einer was wollen würde.“, meinte das Mädchen neben ihr und musterte mich abfällig.
Ich entgegnete nichts. Stattdessen drängte ich mich weiter an den Rand.
„Hey! Wir haben mit dir geredet.“, brüllte sie mir noch nach.
Obwohl ich mir nichts hatte anmerken lassen, hatten ihre Worte mich ziemlich getroffen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen hierher zukommen. Vielleicht war es schon ein Fehler gewesen mich nicht gegen meine Mutter durchzusetzen und die Schule zu wechseln. Ich hatte ja mit Blicken und Getuschel gerechnet. Aber derart angefeindet zu werden - das hätte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht ausgemalt. Man sollte meinen eine Eliteschule hätte mehr Klasse. Jeder war hier genauso gierig und genauso selbstbezogen, wie überall anders auch.
Gekreische füllte den Club. Tay hatte die Bühne betreten. Er hatte eine Gitarre umgeschlungen und griff nach dem Mikro. Sein wirres Haar stand in alle Richtungen vom Kopf an.
„Schön, dass ihr heute alle gekommen seid.“, sagte er in das Mikro. Erneut brach die Menge in ein heulendes Kreischen aus. Tay lachte. Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Er sah so anders aus und doch erkannte ich den Tay von damals in ihm. Sein Lachen war noch genau das selbe. Nur, dass es ohne Zahnspange noch um einiges schöner aussah als zuvor. Tay war noch nie hässlich gewesen. Er hatte nur eben ein unvorteilhaftes Drahtgestell im Mund und etwas zu viel Kilos auf den Hüften und vor allem in den Wangen gehabt. Aber nicht, dass mich Jungs je interessiert hätten.
Tay ließ seinen Blick durch die Menge gleiten und da bildete ich mir ein, dass er meinen Blick fing und eine Sekunde lang daran festhielt.
Als nächstes ertönte der erste Akkord. „Wir spielen jetzt unser erstes Lied. Waterlily.“, sagte er mit seiner zauberhaften Stimme. Chen zählte den Takt an und begann den Rhythmus auf dem Schlagzeug zu spielen. Zu meiner Überraschung war ‚Legit‘ sogar echt gut. Nicht nur die Melodien, die von Keyboard und Gitarre rauf und runter geklimpert wurden, allem voran Tay’s Stimme, die mir ein so vertrautes und wunderbares Gefühl verlieh, dass ich auf Wolken zu schweben schien. Ich konnte mich zwar nicht vollends für die Art von Musik begeistern, aber ich konnte durchaus nachvollziehen, was andere an der Band fanden. Abgesehen von dem Offensichtlichen natürlich.
Ich blieb das gesamte Konzert über ruhig am Rand stehen. Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht so wenig wie möglich aufzufallen und möglichen Anfeindungen aus dem Weg zu gehen. ‚Legit‘ spielte insgesamt fünf Lieder. Danach verlangten die Fans zwar nach einer Zugabe, aber die Mitglieder verkrümelten sich stolz und grinsend von der Bühne. Ich streifte noch etwas durch den Club, fing die Atmosphäre ein, schnappte Gesprächsfetzen auf und beobachtete einzelne Personen. Es war noch nicht allzu spät und ich hatte keine Lust schon den Heimweg anzutreten. Es war lange her gewesen, dass ich unterwegs war. Und das nach dem Abendessen. In der Reha-Klinik hatte ich kaum Ausgang und selbst wenn, dann nur unter Aufsicht. So genoss ich ein kleines bisschen Freiheit.
Irgendwann leerte sich der Club weitgehend. Und so machte auch ich mich langsam auf den Weg nach draußen, bevor ich noch von den drei Mädchen von vorhin begegnen würde.
Ich atmete die frische Nachtluft ein, kramte mein Handy aus meiner Tasche und tippte schnell eine Nachricht an meine Mutter ein. Ich entschied mich anschließend durch den Park zu gehen. Obwohl die Bäume im dunklen ziemlich unheimlich aussahen, fand ich den Weg um einiges angenehmer, als an der Hauptstraße entlang zu gehen. 



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