Samstag, 20. Dezember 2014

Piano Girl - Im Herzen spielt die Musik - KAPITEL 2

Ich schlief diesen Samstag ziemlich lange. Ich drehte mich unter meiner Decke immer wieder hin und her. Ich hatte einfach keine Lust aufzustehen und wahrscheinlich mit meiner Mutter über das Konzert sprechen zu müssen.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
„Bist du schon wach?“, fragte meine Mutter durch das Holz hindurch.
Ich grummelte irgendetwas Unverständliches woraufhin sie die Tür öffnete. Sie trat ins Zimmer. Wie immer hatte sie ihr teils ergrautes Haar zu einem wirren Zopf nach oben gebunden. Sie trug ihr Backschürze, die mit Mehl und anderen Flecken beschmutzt war.
„Maeng kommt heute zu Besuch. Ich habe Kuchen gebacken.“, sagte sie.
„Ich bin später nicht da.“, sagte ich automatisch. Ich hatte keine Lust auf Maeng. Sie war zwar die beste Freundin meiner Mutter, aber das hieß noch lange nicht, dass sie auch zu mir einen freundlichen Umgang pflegte. Ihren wertenden Blick konnte ich heute einfach nicht ertragen.
Meine Mutter schaute mich verdutzt an.
Ich grinste und quälte mich schließlich aus dem Bett, um ihr zu bedeuten, dass ich mich nun fertig machen musste. Etwas geknickt trat sie den Rückzug an. Erleichtert ließ ich mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen. Ich zog mir irgendetwas an, nahm mir meinen I-Pod und verließ das Haus auf dem schnellsten Weg. Das Wetter draußen war nicht gerade einladend, aber ich genoss es dafür umso mehr. Die Temperaturen waren endlich etwas runtergegangen. Dichte Wolken verdeckten die Sonne und die Luft roch wunderbar nach Winter. Ich setzte meine Kopfhörer auf, schaltete ein Lied ein und drehte die Lautstärke hoch. Es gab nichts Schöneres, als an so einem Tag die Musik zu genießen und einfach glücklich zu sein. Ich hatte wirklich das plötzliche Gefühl von Glückseligkeit. Es war doch immer wieder erstaunlich, was Musik in mir auslösen konnte. Die Melodie berührte mein Herz und meine Seele. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht durch die Straßen zog, sodass mich die anderen Leute seltsam beäugten. Aber es störte mich nicht. Ich lief durch den Park Richtung Stadtmitte. Hier waren die Straßen voll von bunt gekleideten Menschen, die Einkaufen waren, in den Cafés saßen oder mit der Familie einen Ausflug machten. Ich stand gerade an der Ampel, da entdeckte ich ein Geschäft, das ich vorher noch nicht gesehen hatte. Ziemlich verwinkelt machte ein kleines braunes Schild auf ein Musikgeschäft aufmerksam, das sich allen Anschein nach im oberen Teil des Bürogebäudes befand. Wie ein Magnet wurde ich von dem Schild angezogen. Ich zögerte kurz ehe ich die Glastür öffnete und in das beheizte Treppenhaus gelangte. Ich setzte meine Kopfhörer ab und stieg die weißen Stufen nach oben. Das braune Schild war auf jeder Etage angebracht und zeigte mit einem kleinen Pfeil die Treppen hinauf.
   Im 5. Stock war eine Metalltür weit geöffnet. Das Schild zeigte direkt darauf. Durch das Fenster im Treppenhaus konnte ich die gesamte Stadt überblicken. Ich sah die hohen Gebäude, den Fernsehturm und sogar die Turmspitze des Schulgebäudes.
Das Geschäft war größer, als ich zunächst angenommen hatte. Direkt am Eingang waren die Streichinstrumente sorgfältig in Reihen aufgestellt. Zur Linken erstreckte sich eine Art Aufenthaltsraum direkt neben der Kasse, an der ein älterer Mann gerade damit beschäftigt war neue Kleingeldrollen zu öffnen. Zur Rechten folgten nach den Streichinstrumenten die Blasinstrumente. Und wenn man geradeaus blickte, schien sich das Geschäft in kleine verwinkelte Räume zu erstrecken. Ich wanderte durch die Reihen. Tatsächlich waren im Geschäft mehrere Schalldichte Räume aufgebaut, die allesamt aus dicken Glaswänden bestanden, durch die man in das Innere schauen konnte. Im ersten Raum entdeckte ich E-Gitarren mit Verstärkern. Dahinter waren Schlagzeuge und schließlich gab es einen gigantischen Raum im hinteren Teil des Geschäftes, in dem Klaviere und Flügel standen. Auch eine beträchtliche Summe von Notenblättern war hier akkurat in dunkle Holzregale sortiert. Es war kaum jemand im ganzen Laden. Ich schaute mich vorsichtig zu allen Seiten um und trat dann näher an einen wunderschönen Flügel heran. Er war weiß lackiert und mit allerlei goldenen Schnörkeln verziert. Es war ein seltsames Gefühl so nah an einem Klavier zu stehen. Ich wäre am liebsten sofort wieder umgedreht und hätte den Laden so schnell wie möglich verlassen. Aber irgendetwas hielt mich davon ab. Ich schien förmlich am Boden festzukleben.
„Er ist schön, nicht wahr?!“, sagte plötzlich jemand hinter mir. Ich fuhr unmerklich zusammen. Ich hatte ihn schon an seiner Stimme erkannt und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich nickte also nur zustimmend und blieb auf meinem Platz stehen.
Tay trat näher an mich heran. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, dass er wie auch die anderen Tage eine dunkle enge Hose trug.
„Willst du nicht spielen?“, fragte er schließlich.
Ich schüttelte hastig den Kopf.
„Die Tasten sind alle mit der Hand gefertigt. Und die Verzierungen sind mit Blattgold eingefasst.“, erklärte er.
„Muss ganz schön teuer sein.“, sagte ich.
„Der Flügel steht nicht zum Verkauf.“, meinte Tay gelassen. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben.
„Wieso steht er dann hier?“, wollte ich wissen und blickte ihn an. Tay trug ein braunes Shirt, genau so eins, wie der Mann an der Kasse getragen hatte.
„Damit sich Musikliebhaber daran erfreuen können. Der Besitzer fand es verschwendet, dass der Flügel nur bei ihm Zuhause stand und von niemandem gesehen werden konnte. So kann Jeder einmal das wunderbare Gefühl bekommen ein solchen Flügel zu spielen.“ Freude hatte sich in sein Gesicht geschlichen.
„Arbeitest du hier?“, fragte ich dann.
Irgendwie war die Situation seltsam. Er redete mit mir, als würde er mich kennen. Und obwohl er das ja auch tat, hatte sich etwas zwischen uns entfremdet, das gerade in diesem Moment wie weggewischt schien.
Er nickte und lachte amüsiert.
„Tay?! Was machst du denn hier hinten?“, unterbrach uns eine tiefe Stimme.
„Wo wir gerade von Besitzer sprechen.“, lachte er und drehte sich um. Der Mann von der Kasse war zu uns getreten und schaute neugierig von Tay zu mir und wieder zurück. 
„Na, junge Dame. Willst du auch mal den Wunderflügel spielen?“ fragte er mit einem breiten freundlichen Grinsen im Gesicht. Er hatte etwas so Herzerwärmendes, dass ich gleich ein schlechtes Gewissen bekam Nein zu sagen.
„Nein, nein.“, beteuerte ich und wehrte mit den Händen ab. Ich schaute zu Tay hinauf. Er hatte seinen Blick auf seinen Chef geheftet.
„Verstehe.“, meinte dieser und zwinkerte mir zu. Verwirrt schaute ich ihn an. Dann warf er Tay einen verschwörerischen Blick zu.
„Ich brauch’ dich gleich vorne.“, rief er ihm im Gehen zu.
„Ich geh’ dann besser mal.“, meinte ich und trottete dem Chef nach, da ich Tay nicht unnötig von der Arbeit abhalten wollte. Ich hatte mich ohnehin schon eine Ewigkeit hier aufgehalten.
„Kia!“, rief mir Tay nach. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Mein Herz zog sich zusammen und das Blut in meinen Adern gefror. Langsam drehte ich mich um.
„Hast du später noch was vor?“, fragte er und sah mich durchdringend an.
Ich schüttelte sprachlos den Kopf.
„Ich hab’ um 19 Uhr Schluss. Ich würde dir dann gern was zeigen.“, sagte er. Seine Stimme war so ruhig und melodisch, dass ich auf der Stelle hätte einschlafen können.
Ich nickte stumm und wand mich zum Gehen. Etwas perplex stolperte ich durch das Geschäft und zum Ausgang. Ich verabschiedete mich vom grinsenden Chef und stieg die endlosen Treppen hinab. Draußen ließ ich mich erst einmal gegen das Glas sinken. Ich atmete tief ein und aus und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen.
Tay wusste noch wer ich war. Er hatte meinen Namen gesagt. Nicht, dass das unter normalen Umständen etwas Besonderes gewesen wäre, aber Tay war eben Tay.
    Er hatte mich jeden Tag von Zuhause abgeholt. Er war der Erste, der mich hatte spielen hören. Niemand sonst durfte das. Er war immer für mich da gewesen, er hatte mich unterstützt und mir geholfen. Er war wie eine Inspiration für mich und wie ein Antrieb. Wenn ich einmal geglaubt hatte ein Stück niemals zu beherrschen, hatte Tay mir gezeigt, dass ich es doch kann. Durch ihn hatte ich überhaupt angefangen zu spielen. Er war es, der mir die wunderbare Welt des Klaviers geöffnet hatte. Ihn jetzt zu sehen, war wie Verrat. Ich konnte mich nicht mehr wirklich daran erinnern, warum genau wir uns irgendwann nichts mehr zu sagen hatten, uns auf den Fluren ignorierten und nie mehr zusammen gespielt hatten.
Ich fühlte mich so unglaublich verloren, so als würde ich ihn enttäuschen, wenn ich jetzt aufgab. Aber auch er war es gewesen, der mir unterbreitet hatte immer alles nur für mich zu tun und für niemanden sonst.

Nach einer Weile machte ich mich auf den Weg zu einer Imbissbude. Ich hatte heute noch nichts gegessen und mein Magen knurrte, um mich daran zu erinnern.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch eine Weile Zeit hatte, bis Tay Feierabend hatte. Ich versuchte inständig nicht daran zu denken, da ich ein unheimliches Kribbeln in meiner Magengegend verspürte, je mehr Minuten verstrichen. Schließlich fing ich sogar an nervös mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte zu trommeln, während ich mein Sandwich förmlich in mich hineinschlang.
Mein Handy vibrierte in meiner Tasche und ließ mich zusammen fahren. Ich schaute mich schnell zu allen Seiten um, aber niemand schien mich zu beachten.
Inna hatte mir geschrieben. Sie fragte wo ich war. Ich überlegte kurz, was ich antworten sollte. Ich hasste lügen, aber die Wahrheit war momentan nicht gerade eine Option.
„Ich bin gerade etwas essen.“, schrieb ich eifrig zurück.
„Später noch Zeit?“, fragte sie in ihrer nächsten Nachricht. Genervt warf ich den Kopf in den Nacken.
„Tschuldige, bin heute ziemlich beschäftigt. Ich schreibe dir morgen.“, antwortete ich schließlich und schaltete mein Handy in den Flugmodus. Ich atmete erleichtert aus und beobachtete die Menschen in dem kleinen Lokal, in dem ich saß. 

Kurz vor 19Uhr verließ ich das Lokal. Ich ging die paar Meter zurück zu dem versteckten Musikgeschäft und lehnte mich gegen die Glasscheibe. Mein Bauch rumorte, meine Hände zitterten und mir wurde eiskalt. Dinge, die ich immer beobachten konnte, sobald ich nervös wurde. Nur war das in dieser Form schon lange nicht mehr vorgekommen.
Ich hörte hinter mir jemanden die Treppe hinunterkommen. Ich kniff die Augen zusammen und zwang mich, mich nicht umzudrehen. Die Tür schwang auf, mein Herz blieb stehen.
„Hey.“, sagte Tay.
Eine Art von Erleichterung durchzog meinen Körper. Obgleich meine Anspannung aber nicht komplett wegging.
Ich lächelte ihn schüchtern an.
„Komm mit!“, sagte er und nickte in Richtung Straße. Er hatte einen wolligen Schal um den Hals geschlungen und seine Hände tief in die Taschen geschoben. Ich zögerte eine Sekunde und folgte ihm dann die Straße hinunter. Es hatte bereits zu Dämmern angefangen. Der graue Himmel war von roten und orangenen Streifen durchzogen, die das Untergehen der Sonne ankündigten.
„Hattest du noch einen schönen Tag?“, fragte Tay und durchbrach damit die anstrengende Stille, die zwischen uns geherrscht hatte.
Ich nickte. „Und war die Arbeit noch gut?“, wollte ich dann wissen.
„Ja. Wer würde es nicht lieben den ganzen Tag von Musik umgeben zu sein.“, lachte er.
Ich war mir sicher einen Hauch Sarkasmus aus seiner Antwort heraus zu hören, fragte aber nicht weiter nach.
„Mein Chef, also der Besitzer vom Laden - er ist einfach klasse. Er versteht so viel von den Instrumenten. In den meisten Musikgeschäften wollen sie dir einfach nur das Teuerste andrehen. Hauptsache Geld. Aber Mr. Jung…“, sagte er und seufzte.
„Das ist gut.“, sagte ich knapp. Ich fühlte mich total unwohl und wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Er hat mir auch bei der Auswahl meiner Gitarre geholfen. So kam ich überhaupt dazu dort zu arbeiten.“, erzählte Tay weiter und ich war froh darüber.
„Ich spiele ja nicht besonders gut, deswegen musste meine Stimme herhalten. Aber die Rolle des Keyboarders war ja schon besetzt, als Kien mit der Bandidee kam. Wobei ich auch glaube, dass er der Bessere für diese Aufgabe ist. Es ist wohl doch ganz gut so, wie es ist.“, meinte er.
„Und das ist jetzt so dein Ding?“, fragte ich und merkte selbst wie bescheuert diese Frage klang. Wie ein Elternteil, das versuchte mit Slang an sein Kind heran zu kommen.
Fragend blickte er mich an.
„Rockmusik und so.“, meinte ich und wich seinem Blick aus.
„Könnte man so sagen.“, sagte er lachend.
Als ich nichts mehr sagte fuhr er fort: „Wieso fragst du?“
„Naja…“, begann ich meinen Satz und suchte nach den richtigen Worten. „Du warst früher anders und es ist einfach so seltsam dich plötzlich so zu sehen.“, stammelte ich.
„Mich wie zu sehen?“, hakte Tay nach.
„Na so!“, meinte ich und fuchtelte mit meinen Händen durch die Gegend, während ich auf seinen Look aufmerksam machen wollte.
Erneut lachte er. „Du hast mich nur lange nicht gesehen. Deswegen hast du den Prozess nicht schleichend miterlebt sondern alles von Null auf Hundert gesehen.“
Ich nickte daraufhin. Wir bogen in einen Park ein, den ich als den Park erkannte, der bei meiner früheren Grundschule lag.
„Veränderungen sind gut.“, sagte er.
„Nicht immer.“, sagte ich bitter und schaute geknickt auf meine Hände hinab. Tay bemerkte meinen Blick.
„Vielleicht nicht offensichtlich. Aber in jeder Veränderung steckt etwas Gutes. Man muss es nur finden.“, fügte er hinzu.
„Das sagen sich dann die Verlierer.“, gab ich zurück.
Tay schwieg. Eine Weile liefen wir einfach nur nebeneinander her und starrten beide auf den Sandweg, der unter unseren Füßen knirschte.
„Wir sind da.“, sagte er schließlich. Ich blieb stehen und schaute auf den Baum, der sich vor uns in den Himmel erhob.
„Es ist noch da?“, fragte ich staunend, als ich das Baumhaus erblickte. Zwischen Ästen und Blättern versteckt, aber dennoch deutlich zu erkennen. Die Holzplatten waren von Moos bewachsen und schienen schon etwas modrig zu sein.
Tay blickte sich zu allen Seiten um und schritt zu der Holzleiter, die am Baum angebracht war. Ich ballte meine Hände vorsichtig zu Fäusten und erwartete eigentlich schon, dass sich ein stechender Schmerz hindurch ziehen würde, doch nichts geschah.
Ich lief über das Gras, welches von Laub bedeckt war und kletterte Tay hinterher die Leiter hinauf. Er zog einen Schlüssel aus seiner Jackentasche und machte sich am Schloss des Baumhauses zu schaffen.
„Das Schloss gab es aber früher nicht.“, merkte ich an.
„Früher musste man das Baumhaus auch nicht beschützen.“, grinste er.
Er schloss die Tür auf und bedeutete mir, hinein zu gehen. Als ich im Raum stand, knipste er das Licht an. Alles sah noch fast genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte.
Vor dem großen Fenster, dessen Scheiben nicht mehr zerbrochen waren, lagen einige Decken. In der Ecke lagen mehrere Stapel Notenblätter und an der Wand stand das kleine Klavier, auf dem ich damals zum allerersten Mal gespielt hatte.
„Aber wie ist das möglich?“, fragte ich und schaute mich ungläubig um.
„Mein Park. Mein Baumhaus.“, sagte er lässig.
Ich hatte glatt vergessen, dass der Park Tay’s Familie gehörte. Es war nie etwas gewesen, auf dem er rumgeritten war und daher war es mir wohl auch nie wirklich bewusst gewesen.
„Willst du spielen?“, fragte er und zeigte mit dem Finger auf das Klavier. „Es funktioniert noch super. Ich habe mir alle Mühe gegeben und es in Stand gehalten.“
Ich sah ihn etwas geknickt an und schüttelte den Kopf. Ich stellte mich an das Fenster und schaute durch Äste und Blätter in den dunklen Park hinein.
Tay trat neben mich.
„Also ist es wahr, was alle sagen?“, fragte er. „Du spielst nicht mehr?!“
Ich antwortete nicht. Er lachte bitter.
„Was hat diese Schule nur aus dir gemacht?“, fragte er mehr sich selbst als mich. Fragend schaute ich ihn an, da ich nicht verstand, worauf er hinaus wollte.
„Erklär’s mir! Warum willst du nicht mehr spielen?“, fragte er und wurde etwas aufbrausend. So kannte ich ihn gar nicht.
„Weil ich nicht mehr so spielen kann wie vorher.“, meinte ich matt.
„Ist das dein ernst?“, fuhr er mich an. Erschrocken wich ich etwas zurück. Er stierte mich mit seinen dunklen Augen an. Das schummrige Licht der einzelnen Glühbirne warf tiefe Schatten in sein Gesicht.
„Wen interessiert es denn, ob du so spielen kannst, wie vorher?!“
„Mich! Was habe ich denn davon, wenn ich nicht mehr so gut bin wie vorher. Da kann ich es auch gleich sein lassen.“, fauchte ich zurück. Ich war diese Diskussionen so satt. Schon tausende Male hatte ich meiner Mutter genau das gleiche gesagt.
„Wieso darfst du bestimmen was ‚gut‘ ist und was nicht. Seit wir auf die Prideston gekommen sind, bist du schon so.“
„Wie bin ich denn?“, wollte ich wütend wissen.
„So verdammt… arrogant.“, spuckte er aus.
Verdattert schaute ich ihn an. „Wie bitte?!“, hauchte ich.
„Plötzlich bist du das Ausnahmetalent. Plötzlich brauchst du einen privaten Lehrer. Hast keine Zeit mehr für mich oder für sonst jemanden von deinen Freunden. Als du angefangen hast zu spielen, da ging es dir um das Gefühl. Du hast so glücklich ausgesehen, wenn immer du gespielt hast. Und du konntest die Menschen mit deiner Freude anstecken. Aber irgendwann wurdest du kalt und das Lächeln auf deinem Gesicht war verschwunden. Hast du dich nie gefragt, warum es keine Willkommensparty für dich gab? Warum dich nie jemand besucht hat?“, schrie er.
Ich war sprachlos. Ich verstand nicht, was gerade vor sich ging.
„Du bist zu einem Roboter geworden, der es sich zur Aufgabe gemacht hat ein Lied nach dem nächsten in seinen Kopf zu hämmern. Dir geht es doch gar nicht mehr um die Musik sondern nur darum für etwas Anerkennung zu bekommen. Deswegen fragst du auch ob Rockmusik jetzt ‚mein Ding‘ ist. Es ist doch egal was für eine Art von Musik, solange man sie für sich spielt. Lausche der Musik und lasse sie in dein Herz. Hast du das etwa vergessen?“
Ich hatte es nicht vergessen. Aber ich fand es war etwas, das diejenigen zu sich sagten, die nicht das Können hatten um Großes zu erreichen.
Ich schluckte den schweren Kloß in meinem Hals hinunter und wandte mich zum Gehen.
„Weißt du was?!“, fragte Tay, als ich schon in der Tür stand. Ich drehte mich zu ihm um und schaute ihn gleichgültig an.
„Ich bin echt froh, dass du diesen Unfall hattest. Vielleicht findest du jetzt mal wieder zurück zur Musik und vielleicht lässt du sie auch wieder in dein Herz.“, sagte er jetzt ruhiger und berührte die Stelle über seiner Brust.
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich fühlte mich wie in einer Art Schockstarre. Meine Finger verkrampften und unwillkürlich sah ich das Szenario des Unfalls wieder vor meinem inneren Auge. Ich spürte den Aufprall, ich hörte das zermahlene Geräusch von Knochen, durchlebte alles noch einmal. Tränen drückten gegen meine Augen. Mein Atem stockte, einen Moment lang hatte ich das Gefühl in Ohnmacht zu fallen. Dann gelangte ich endlich zurück in die Realität.
Ich drehte mich wortlos um und verschwand in der Dunkelheit.
    Als ich so durch den Park rannte, konnte ich nicht anders und weinte. Die Tränen liefen in Rinnsalen über meine Wangen und drohten in der eisigen Kälte zu gefrieren. Als ich endlich in die Straße einbog, in der ich wohnte, verlangsamte ich meinen Schritt. Ich konnte nicht mit verheultem Gesicht nachhause kommen. Besonders nicht, falls Maeng noch da sein würde. Ich wischte mein Gesicht mit meinem Ärmel trocken und atmete einige Male tief durch. Nach einer gefühlten Ewigkeit schloss ich die Haustür auf und machte mich sofort auf den Weg nach oben in mein Zimmer.
„Kia?“, rief meine Mutter aus dem Wohnzimmer.
„Hi, Mom.“, rief ich zurück.
„Hast du hunger?“, fragte sie.
„Nein, ich habe schon gegessen. Ich bin echt müde.“, meinte ich und schloss die Zimmertür hinter mir. Ich warf meine Jacke achtlos auf den Boden und setzte mich mit einem Kissen vor dem Bauch auf die Fensterbank. Ich schaute in den kleinen Splitter hinauf, den der Mond bildete und versuchte die Geschehnisse von mir zu drängen. Er hatte gesagt Veränderungen seien gut. Ich hatte mich seit der Mittelschule eben auch verändert. Was konnte ich denn dafür, wenn ich besser war als alle anderen?! Was fiel ihm ein mich arrogant zu nennen?! Ich schluckte den Ärger hinunter und setzte mich an meine Hausaufgaben, um mich abzulenken. 

Das restliche Wochenende verbrachte ich schweigend in meinem Zimmer. Es graute mir jetzt schon davor wieder in die Schule zu gehen. Ich wollte weder Tay, noch den Anderen begegnen, die der Ansicht waren sie durften sich einfach so eine Meinung über mich bilden. Inna schien momentan die Einzige zu sein, die mich wenigstens ansatzweise verstand. Oder sie hatte einfach nur aufgegeben. Die beste Entscheidung wäre es wohl gewesen die Schule zu wechseln. Ich fing langsam aber sicher an, alles an der Prideston zu hassen. Und ich konnte auch die Musik immer weniger leiden. Ich hatte das ansteigende Gefühl von ihr betrogen worden zu sein. Als würde sie mir in den Rücken fallen. Und irgendwie stimmte das auch. Ich hatte alles geopfert. Ich hatte so viel Zeit und Hingabe investiert und das alles wurde mir mit zerschmetterten Fingern gedankt. Wenn es einen Gott gäbe, dann verstand ich eindeutig nicht, wie er handelte. Ich verstand nicht, womit ich das alles verdient hatte und wieso niemand auf meiner Seite zu sein schien.

Ich quälte mich am Montagmorgen aus dem Bett, setzte mich wortlos zu Inna in den Wagen und spazierte missmutig in das Schulgebäude. Ich verschwieg Inna das Treffen mit Tay, da ich glaubte es würde weniger real sein, je weniger ich es erwähnte.
    Als ich das Klassenzimmer betrat, saß er bereits an seinem Platz. Auch Hana ließ nicht lange auf sich warten. Sie stolperte in viel zu hohen Schuhen in das Klassenzimmer und wankte auf Tay zu.
„Tay! Euer Konzert war einfach der Hammer. Die ganze Schule spricht noch davon…“, plapperte sie. Ich schaltete auf Durchzug und rollte genervt mit den Augen.
Ich ließ die Stunden über mich ergehen, während ich nur daran dachte endlich nachhause zu kommen. Ich würde das keine einzige Woche mehr aushalten. Irgendetwas musste es doch geben, das mich etwas ablenken konnte. 
     „Der nachdenkliche Blick steht dir.“, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ich durch die Flure zu meinem Spind schlenderte.
Erschrocken blickte ich hoch und erkannte Luan, der neben mir herging. Ich schielte durch die Flure und hielt zu meiner Entsetzung Ausschau nach den drei Mädchen vom Konzert. Wie weit war es schon gekommen, dass ich selbst Angst vor irgendwelchen dummen, kleinen Mädchen hatte, die offensichtlich nur eifersüchtig waren.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte Luan.
„Doch doch.“, beteuerte ich.
„Und hat dir das Konzert gefallen?“, wollte er wissen.
Ich nickte.
„Hab’ ich mir doch gedacht.“, lachte er.
Müde erwiderte ich sein Lachen. Mir war nicht wirklich nach Konversation.
„Hör’ mal.“, fing er an. „Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du heute nach der Schule schon etwas vor hast?!“
Ich schüttelte den Kopf. Wir hatten meinen Spind erreicht. Ich öffnete das Schloss und räumte meine Bücher in den Schrank.
„Vielleicht hast du ja dann Lust, etwas mit mir zu unternehmen.“, sagte er.
„Ich?“, fragte ich verwirrt.
Er nickte und fuhr sich nervös mit der Hand durch die blonden Haare.
Ich zögerte. Die Worte der drei Mädchen hallten in meinem Kopf. Allerdings hatte ich mir schon immer gesagt, nicht auf andere zu hören und mir selbst ein Urteil zu bilden. Ich wollte Luan nicht einfach so verurteilen. Schließlich hasste ich es doch auch, dass alle genau dies mit mir machten.
Luan schaute mich mit großen wachsamen Augen an. Ich glaubte zu wissen, dass er nicht gerade oft Mädchen nach einer Verabredung fragte und erst recht keine Absagen gewohnt war. Was ich von Inna gehört hatte, und was ich bis jetzt mitbekommen hatte, sprach doch sehr dafür, dass die Mädchen Luan reihenweise hinterher liefen. Und das war bei seinem engelsgleichen Aussehen und seiner charmanten Art wohl auch mehr als gerechtfertigt.
Weiter hinten im Gang erkannte ich in diesem Moment Tay. Er stand an die Spinde gelehnt und schaute mit grimmigen Blick zu mir und Luan herüber. Als ich ihn ansah, schaute er langsam in eine andere Richtung. Ich merkte allerdings, dass er uns aus seinen Augenwinkeln noch beobachtete.
„Klar, wieso nicht.“, sagte ich schließlich zu Luan und zauberte ihm damit ein wunderschönes Lächeln ins Gesicht, das mich mit so einer ehrlichen Erleichterung sofort zufrieden stimmte. Irgendetwas an seiner Art weckte in mir beinah eine Form von Beschützerinstinkt.
    Nachdem die letzte Unterrichtsstunde endlich ihr Ende fand, wartete ich vor dem Schulgebäude auf Luan. Ich kam mir etwas merkwürdig vor. Die Schüler, die an mir vorbei gingen, warfen mir neugierige Blicke zu, obwohl ich mein Bestes gab und versuchte mich unauffällig zu verhalten.
„Soll ich dich mitnehmen?“, fragte Inna plötzlich.
„Hast du heute keine Probe?“, wollte ich wissen.
Inna schüttelte den Kopf und wedelte mit ihrem Autoschlüssel vor meiner Nase herum.
Zerknirscht schaute ich sie an und suchte nach den richtigen Worten.
„Ich habe ehrlich gesagt schon etwas vor.“, sagte ich schließlich.
Verdutzt zog sie die Augenbrauen hoch.
In diesem Moment legte von hinten jemand seinen Arm um meine Schultern.
„Bist du soweit?“, fragte Luan. Er war einen ganzen Kopf größer als ich, was zur Folge hatte, dass Inna zwischen ihm und mir hoch und herunter schaute. Sie zeigte verwirrt mit dem Finger auf ihn. „Ihr? Ich meine… du und er? Luan? Aber… wann?“, stotterte sie. Ich zuckte unbeholfen mit den Schultern, vergrub meine Hände in den Taschen meiner Lederjacke und versuchte zu Lächeln. Luan’s Körper vibrierte neben mir vor Lachen.
„Ich ruf dich nachher an, ja?!“, meinte ich, als Luan mich in Richtung Treppe drängte. Wir ließen eine verwirrte Inna zurück. Ich spürte die stechenden Blicke auf mir, als wir über den Parkplatz gingen. Das letzte Mal war es noch halbwegs erträglich gewesen. Aber diesmal mit seinem Arm auf meiner Schulter, wusste ich, dass die Blicke auch mir galten. Kalte, tötende Blicke, die mir nur das Übelste wünschten, obwohl das Übelste mich schon längst heimgesucht hatte.
„Muss das mit dem Arm sein?“, fragte ich leise.
Sofort zog Luan sich zurück. „Tschuldigung. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“, meinte er und fuhr sich verlegen mit den Fingern durch die blonden Locken. Eine Geste, die ich erschreckender Weise total niedlich fand.
„Also worauf hast du Lust?“, fragte er mich, als wir in seinem Wagen saßen und er den Motor startete. „Kaffee, Essen, Kino?“
„Kaffee klingt gut.“, sagte ich, obwohl ich es hasste triviale Entscheidungen zu treffen.
Die Sonne neigte sich schon früh dem Horizont entgegen. Luan hatte uns je einen Kaffee besorgt und dann waren wir an einen nahgelegenen See gefahren, wo wir das Herbstwetter genossen. Seltsamerweise war die Zeit mit Luan so unbeschwert, wie ich es nie erwartet hatte. Ich war mir nicht wirklich sicher, worauf ich mich da eingelassen hatte. Im Grunde wollte ich wohl Tay nach unserem Streit eins auswischen. Aber je mehr Minuten vergingen, desto weniger bereute ich meine Zusage.
„Darf ich dich etwas fragen?“, wollte er wissen, als wir uns auf eine Bank mit Blick auf den See niedergelassen hatten. „Wenn du nicht antworten möchtest, musst du auch nicht.“, fügte er hinzu.
Ich umklammerte meinen Pappbecher mit meinen kalten Fingern und wartete mehr oder weniger gespannt auf seine Frage.
„Wie formuliere ich das jetzt am besten.“, setzte er an und richtete seinen Blick in die Ferne. Seine dunklen Augen glitzerten in der untergehenden Sonne und sein helles Haar schimmerte in satten Goldtönen. Der burgunderfarbene Schal, den er um seinen Hals gewickelt hatte, ergab einen wunderschönen Kontrast zu seinem ebenmäßigen, weißen Gesicht.
„Wenn man einen Traum hat und dann an einen Punkt gelangt, an dem man sich sicher ist, dass man diesen Traum niemals erreichen wird - sei es eigen- oder fremdverschuldet - sucht man sich dann einen neuen Traum, oder hält man dennoch an dem Traum fest?“
Ich schaute ihn schweigend an. Ich hatte eine andere Frage erwartet und musste nun erst einmal überlegen, inwieweit er gerade tatsächlich über mich sprach.
„Warum sollte man an etwas festhalten, was man nie erreichen wird?“, fragte ich.
Luan nickte langsam. „Meinst du, man sollte den Traum vergessen und nicht darauf hoffen, dass sich noch etwas ändert und man es doch schafft?!“
„Ich halte nicht viel von Hoffnung.“, sagte ich knapp.
„Wieso nicht?“, fragte Luan.
„Hoffen ist wie schummeln.“, meinte ich und seufzte. „Wenn man auf etwas hofft, ändert das rein gar nichts an den Tatsachen. Die Leute hoffen und reden sich damit ein etwas zu tun, aber im Grunde sitzen sie nur tatenlos da und schauen zu, was passiert.“
„Also sollte man dem Traum mit aller Kraft hinterher jagen?“
Irgendwie war ich mir sicher, dass es bei diesem Gespräch um mich ging und so langsam fühlte ich mich in der Falle. Egal wie ich es drehte, mein Verhalten ließ sich nicht logisch rechtfertigen.
„Im Grunde wohl schon.“, gab ich zu. Ich nahm einen großen Schluck des warmen Kaffees und blinzelte dem roten Himmel entgegen.
„Wieso tust du es dann nicht?“, fragte Luan. Ich spürte seinen Blick auf mir und als ich ihn ansah, schienen seine Augen mich zu durchdringen. Ich antwortete ihm nicht. Für mich war das Gespräch an dieser Stelle beendet.
„Du verhältst dich genau so tragisch wie Tay.“, jammerte er.
„Tay?“, fragte ich verwirrt.
„Er ist momentan einfach nicht mehr er selbst. Er hat wohl seine Inspiration verloren oder so.“, erklärte Luan.
„Inwiefern?“, hakte ich nach.
„Tay schreibt die Songs für unsere Band alle selbst.“, begann Luan. Überrascht hörte ich zu. Ich wusste ja, dass Tay begabt war, aber Songs zu schreiben hätte ich ihm nicht unbedingt zugetraut.
„Warte, hier.“, sagte Luan plötzlich und fischte in seiner Jackentasche herum. Er holte sein Handy hervor, steckte Kopfhörer an und reichte sie mir. Eine liebliche Melodie erklang in meinen Ohren. Ein Klavierstück, das mich sofort berührte. Auf eine unerklärliche Weise beruhigte mich das Lied, gleichzeitig trieb es mich an, weckte in mir unterbewusste Bedürfnisse. Dann brach das Stück ab. Luan nahm mir die Kopfhörer wieder ab und versenkte sie zurück in seine Tasche.
„Hört es einfach auf?“, fragte ich.
Luan nickte. „Gefällt es dir?“
„Sehr.“, gab ich zu.
„Das Stück hat Tay vor einigen Wochen angefangen zu schreiben. Aber jetzt macht er nicht mehr weiter. Er sagt die Inspiration für das Stück hat sich langsam von ihm entfernt. Sie drohte zu entschwinden und er hat sie verloren. So ein Geschwafel.“, lachte Luan. „Ich habe da wohl eine andere Auffassung als er.“
Ich dachte über seine Worte nach. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Inspiration einfach so verschwand. Man hatte vielleicht neue Inspirationen, die einen zu neuen Dingen leiten und alte Dinge verwerfen lässt, aber dies schien wie eine Art Blockade zu sein, wie man es bei Schriftstellern oft hörte.
„Und was könnte der Grund dafür sein?“, fragte ich.
Luan zuckte mit den Schultern. „Was ich eigentlich sagen wollte ist, dass er sich im Grunde einfach aufgibt. Weil er stehen bleibt und nicht rennt. Genau so wie du.“
Ich lächelte ihn müde an und schob seine Worte beiseite. Ich fand nicht, dass sich diese beiden Situationen auch nur annähernd vergleichen ließen.
„Und was ist dein Paket?“, durchbrach ich nach einer Weile die entstandene Stille.
Fragend blickte er mich an.
„Tay hat keine Inspiration, ich habe kaputte Hände, was hast du, das dich runterzieht?“
Luan lächelte matt. Er sah plötzlich sehr müde und erschöpft aus.
„Ich ziehe die Schuld eines Toten hinter mir her.“, sagte er leise.
Meine Augen weiteten sich ungläubig.
„Bevor ich auf diese Schule gewechselt bin, war ich noch kein Einzelkind. Mein älterer Bruder war im Abschlussjahrgang und sollte bald zur Uni gehen. Ich hatte schon eine ganze Weile das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Aber getan habe ich nichts.“
Stille. Eine unglaubliche Stille, sodass ich das Blut in meinen Ohren rauschen hörte.
„Kai hat sich das Leben genommen. Verstehst du jetzt, wieso es so wichtig ist, zu rennen?“ Er hatte den Blick gesenkt, sodass ihm seine Haare in die Augen fielen.
Ich war sprachlos und rang nach den richtigen Worten.
„Ist schon okay. Du musst nichts sagen. Ich mache mir keine Vorwürfe mehr. Tay hat mich mit ‚Legit‘ aus einem tiefen Loch gezogen. Ich weiß wie es dort unten ist und deswegen will ich nicht mit ansehen müssen, wie irgendjemand anders das Gleiche durchlebt.“
Er schaute mich an und lächelte. Aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Ich spürte das leichte Beben in seiner Stimme und ich hatte das Gefühl, dass er nicht nur mich anlog, sondern auch sich selbst. Irgendetwas an seinem Verhalten, seinem kühlen Blick und seinen matten Augen sagte mir, dass er sich sehr wohl noch die Schuld am Tod seines Bruders gab.
„Sag mal, das Lied, kannst du mir das vielleicht senden?“, fragte ich und wechselte das Thema.
Überrascht blickte Luan mich an. „Ja, klar.“, sagte er verdattert und zog schon sein Handy aus der Tasche und war allen Anschein nach froh über meinen Themenwechsel.
Ich stand schließlich von der Bank auf. „Ich muss langsam mal nachhause. Ich gehe von hier aus einfach zu Fuß.“, meinte ich. „Ich seh’ dich dann morgen in der Schule.“, fügte ich hinzu und schenkte ihm ein Lächeln.
Luan schien etwas überrumpelt zu sein und nickte bloß.
„Achja!“, sagte ich und drehte mich zu ihm herum. Ich war schon ein Stück über den Sandweg gelaufen. „Das Lied war nur ein Vorwand um an deine Nummer zu kommen.“, grinste ich. Daraufhin strahlte Luan, wie er es schon getan hatte, als ich der Verabredung zugesagt hatte. Ganz gelogen hatte ich nicht.
    An diesem Abend dachte ich noch lange an Luan’s Worte. Irgendetwas hatte mich ins Grübeln gebracht. Er hatte zwar gesagt er würde sich keine Vorwürfe mehr machen, aber noch immer wollte ich dem keinen Glauben schenken. 

Die Woche verging wie im Flug. Inna hatte sich während der Tage seltsam von mir distanziert. Wenn immer ich Tay sah, versuchte ich ihm aus dem Weg zu gehen. Nach unserem Streit wusste ich nicht wirklich wie ich mich verhalten sollte und zudem war ich noch immer wütend und verletzt über seine letzte Bemerkung.
Obwohl ich mich mit Luan gut verstanden hatte, wichen wir uns gegenseitig aus. Ich erwischte mich beim Mittagessen, wie ich zu ihm herüber lugte. Er war wie so oft von einem Schwarm Mädchen umgeben, der wohl auch der Hauptgrund dafür war, dass ich ihn selten allein antraf. Was mich aber am meisten traf, waren die wertenden und hochnäsigen Blicke der anderen Mädchen. Als wären sie eine Art Schutzschild für Luan schirmten sie ihn ab und vergraulten mich mit ihren zusammengekniffenen Augen derartig, dass ich mich gar nicht in seine Nähe traute. Nicht, dass es mir viel ausmachen würde, angestarrt zu werden oder nicht gemocht zu werden. Aber ich wollte das Schuljahr einfach nur schweigend und so unauffällig wie möglich hinter mich bringen. Ich hatte keine Lust auf wirre Anfeindungen. Dafür hatte ich im Moment einfach nicht die Kraft. Obwohl ich mir auch immer sicherer wurde, dass ich für gar nichts mehr Kraft hatte. 
Nach der Schule schlief ich meistens direkt ein und so blieben auch meine Hausaufgaben auf der Strecke - sehr zur Missgunst meiner Mutter.
     „Freitag Kino?“, erschien eine Nachricht auf meinem Handy, als ich am Donnerstagabend mit Kopfhörern auf meinem Bett saß und wie so oft dem Lied von Tay lauschte. Ich hatte mir schon langsam Sorgen gemacht, wann Inna sich bei mir melden würde und mit ihrer Nachricht fiel eine große Last von meinen Schultern.
Ich trudelte Freitag vor dem Kino ein. Es war schon ziemlich dunkel und der Wind war so kalt, dass meine Nase schon rot geworden war. Ich lief wartend auf und ab.
Dann sah ich ihn. Er hatte seine schwarze Lederjacke an, trug eine graue Mütze über seinen blonden Locken und hielt ein Mädchen im Arm. Ich blieb stehen und schaute ihn an. Als er mich bemerkte, veränderte sich etwas in seinem Blick. Er sah ertappt aus und schien nicht so recht zu wissen, was er machen sollte. Das Mädchen neben ihm verfolgte seinen Blick und schaute mich neugierig an. Sie sah freundlich aus. Ihre hellbraunen Haare waren zu wunderschönen Locken gedreht. Sie war sehr blass und trug unter ihrem offenen Mantel eine senfgelbe Bluse, die definitiv nicht jedem so gut gestanden hätte.
„Kennst du das Mädchen?“, hörte ich sie fragen.
Aus seinen Gedanken gerissen schüttelte er den Kopf, schaute sie an und drängte sie im nächsten Moment in Richtung Eingang.
„Tschuldige, dass ich etwas zu spät bin.“, keuchte Inna im nächsten Moment hinter mir. „Ich hatte meinen Schülerausweis vergessen und musste noch einmal zurück.“
    Den ganzen Film über hatte ich mich nicht wirklich konzentrieren können. Ich fand es irgendwie seltsam, dass ich so darauf reagierte. Schließlich hatten Luan und ich uns nur ein einziges Mal getroffen und in erster Linie hatte ich nur zugesagt, weil Tay mich so grimmig angesehen hatte. Vielleicht hatte Tay ihm auch gesagt er solle mich nicht noch einmal treffen. Ich war eindeutig viel zu eingebildet.
Als der Film zu ende war, strömte die Masse zum Ausgang. Und wie nicht anders erwartet, liefen Inna und ich Luan und seiner Begleiterin über den Weg.
Ich versuchte krampfhaft zu lächeln, schob mich an ihm vorbei und wäre am liebsten losgelaufen. Doch plötzlich spürte ich einen Griff um meinen Arm. Als ich mich umdrehte, schaute ich in Luan’s dunkle Augen.
„Kia!“, sagte er. Mit großen Rehaugen blickte er mich an.
„Hm?“, fragte ich erstaunt.
Er zog mich einige Schritte beiseite. Inna und seine Begleiterin wechselten einen fragenden Blick und beobachteten uns.
Zögernd sah er mich an und biss sich nervös auf die Unterlippe.
„Hier.“, sagte er und zog einen Schlüsselbund aus seiner Tasche.
Fragend sah ich ihn an.
„Bitte nimm du ihn.“, sagte er mit Nachdruck und streckte mir die Schlüssel entgegen.
„Was ist das?“
„Das ist der Schlüssel zu unserem Bandraum, der zum Baumhaus und der zum Lieferwagen.“, sagte er matt.
„Was soll ich damit?“, fragte ich ziemlich verwirrt.
„Tay ist dieses Wochenende nicht da.“, sagte er und wich meinem Blick aus. Im nächsten Moment fokussierte er mich wieder. „Ich möchte, dass du den Schlüssel hast, falls wir uns nicht mehr sehen.“, fuhr er fort. Ein schmerzendes Lächeln huschte über seine Lippen. Ich zog eine Augenbraue hoch. Als ich den Schlüssel immer noch nicht nehmen wollte, griff Luan nach meiner Hand und legte den Schlüsselbund hinein.
„Bitte?!“, meinte er und etwas Verzweifeltes schwang in seiner Stimme mit.
Ich nickte nur. Sichtliche Anspannung fiel von ihm ab. Er nickte mir zur Verabschiedung zu.
„Bleib’ nicht stehen.“, waren seine letzten Worte. Dann drehte er sich um, griff nach seiner Begleiterin und zog sie aus dem Kino hinaus.
„Was war das denn?“, fragte Inna mit verschränkten Armen.
„Keine Ahnung.“, gestand ich und beäugte die Schlüssel in meiner Hand.
    Inna hatte angeboten mich nachhause zu fahren, doch stattdessen hatte ich mich entschieden zum Baumhaus zu gehen. Luan hatte gesagt Tay wäre dieses Wochenende nicht da und ich war im Besitz des Schlüssels - demnach war es kein Einbrechen mehr und ich lief nicht der Gefahr aus, Tay über den Weg zu laufen.
Der vertraute Geruch des Holzes versetzte mich sofort in eine entspannte Stimmung. Ich kramte mein Handy aus meiner Tasche, schaltete Musik ein und lehnte mich gegen die Wände. So saß ich eine Weile mit geschlossenen Augen dort.
Ich musste zugeben, dass das kleine Keyboard mich wie ein Magnet anzog. Gleichzeitig schienen meine Finger zu kribbeln und kleine elektrische Stöße schnellten hindurch.
Schließlich seufzte ich, rutschte über den Boden und griff nach einem leeren Notenblatt. Ich kramte einen Stift aus meiner Tasche und begann die Noten von Tay’s Lied einzutragen. Er hatte wirklich ein unglaubliches Talent. Die kleinen schwarzen Punkte ergaben ein wundervolles Bild auf dem gestreiften Papier. Man konnte förmlich sehen wie schön das Lied klang, sobald man es auf die Tasten übertragen würde.
Allerdings zögerte ich. Nachdem ich den ersten Teil zu Papier getragen hatte, legte ich meine Hände auf das Keyboard. Doch obwohl es ausgeschaltet war, traute ich mich nicht die Tasten hinunter zu drücken. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich fühlte eine ungemeine Unsicherheit. Ich hatte das Gefühl mich selbst zu betrügen und auf der anderen Seite Tay zu betrügen.
Ich dachte an Luan und sein gezwungenes Lächeln, seinen flehenden Blick und seine letzten Worte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich schaute auf die Uhr. Es war bereits weit nach Mitternacht. Ich blickte auf mein Handy
. Sieben verpasste Anrufe meiner Mutter. Ich rief sie schnell an und versicherte ihr, das alles in Ordnung sei und ich bei Inna wäre. Dann drängte mich plötzlich irgendetwas Luan eine Nachricht zu schreiben. Und so fragte ich nach ob alles in Ordnung sei. Ich starrte eine Weile auf das leuchtende Display, doch es kam keine Antwort.

     Ich hatte eigentlich vorgehabt die Nacht im Baumhaus zu verbringen. Doch es wurde immer kälter und die eisige Luft schlich sich unter meine Kleidung. Ich lief durch die Morgendämmerung zurück nachhause, schloss die Tür so leise wie möglich auf und verkroch mich in die Wärme meines Zimmers.
Noch immer hatte Luan nicht auf meine Nachricht geantwortet. Das einzige, was daran beruhigend war, war, dass er die Nachricht anscheinend auch noch nicht gelesen hatte. Ich zog die Decke bis zu meinem Kinn hoch und je länger ich so dort lag, desto unsicherer wurde ich. Plötzlich fand ich es gar nicht mehr so beruhigend, dass er die Frage noch nicht gesehen hatte. Ich tat kein Auge zu. Ich verbrachte die Stunden damit auf meine Uhr zu starren und zu warten, bis es eine humane Uhrzeit wäre, um jemanden anzurufen. Um 7 Uhr morgens hielt ich es nicht mehr aus. Ich drückte auf das kleine Telefon neben Luan’s Namen und wartete auf das Freizeichen.
„Der gewählte Teilnehmer ist zur Zeit leider nicht verfügbar.“, plapperte eine Stimme mir entgegen. Genervt stieß ich die Luft aus. Luan hatte sein Handy anscheinend ausgeschaltet. 



... es empfiehlt sich an dieser Stelle das Weihnachtsspecial zu lesen.


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